Vor und nach dem Mauerfall

Rezensiert von Astrid Kuhlmey |
Für viele Menschen verblasst mittlerweile die Erinnerung an die DDR. Um diesem Vergessen, und manchmal auch der Verklärung, entgegenzuwirken, haben der Schriftsteller Lutz Rathenow und der Fotograf Harald Hauswald in ihrem Band "Gewendet" Bilder vor und nach dem Mauerfall zusammengetragen.
Rathenow und Hauswald haben einen beinah legendären Band über das Ostberlin in den Zeiten der Mauer gemacht – mit Chuzpe und der Stasi im Nacken. Denn es waren Bilder und Texte, die nicht ins SED-Leitbild passten. Sie waren grau, sehr nah an den wirklichen Menschen und somit weit weg von offiziellen Verlautbarungen. Dabei verrieten diese Beobachtungen und Beschreibungen ihr Berlin glücklicherweise nie an Sozialkitsch, der mitunter in den Zeiten der Wende hoch im Kurs stand.

Nun haben die beiden ein Nachfolgebuch herausgegeben und da wird man ja in der Regel ein wenig vorsichtig – man hat so seine Erfahrungen mit solchen Projekten gemacht.

Den Titel "Gewendet" fand ich denn auch nicht so glücklich, weil er sehr an Wendehals und wetterwendisch denken lässt und damit ein Konzept suggeriert, damals war alles originell und abgedreht – nun grinst uns eine geliftete Stadt an.

Ich kenne ähnliche Töne von nicht wenigen ehemaligen DDR-Kritikern, die heute mit einer Träne im Knopfloch all den authentischen DDR-Ruinenstraßen hinterher jammern und jedem Schlagloch im Bürgersteig ein Erinnerungskränzchen winden.

Doch dazu sind die beiden – der Schriftstellere und der Fotograf – viel zu kluge und genaue Beobachter des sozialen Geschehens in Berlin. Sie haben durch ihr Leben in Ostberlin – beide Sachsen leben seit den 70er Jahren in der Stadt – sie haben dadurch ein untrügliches Gefühl für das, was mehr als Szenerie ist – damals und heute. Und sogar todfotografierte Motive bekommen in diesem Buch neue Schattierungen. Und bei Schattierungen muss gleich gesagt werden, dass es sich wieder um Schwarz-Weiß-Fotos handelt. Und glücklicherweise sind weder Autor und schon gar nicht der Fotograf auf die wohlfeile Idee gekommen – damals: schwarz-weiß – heute: farbig. Also grauer Osten versus farbige neue Welt.

Was kann ein solches Paar leisten und was kann es verderben?
Bild und Text können sich ergänzen, begleiten oder Konkurrenz machen und in dieser Konkurrenz sogar langweilen.

Alles das passiert in diesem 120 Seiten starken Band.
Fangen wir trotzdem mit der Langweile an, dann haben wir sie hinter uns.
Warum kommentiert ein so kluger Autor wie Lutz Rathenow die Bilder mehr als ihnen gut tut. Manche Beschreibungen haben Schülerzeitungsniveau. Ich frage mich, warum kein Lektor ihm abgeraten hat. Zumal der Mann ansonsten so genaue Texte schreibt, einen sicheren Sinn fürs Hintergründige hat. Doch bei den Bildunterschriften muss ihn der Teufel geritten haben. Er erklärt nämlich, was Hauswald zeigt. Beispielsweise im Jahr 1984 eine Art Propaganda - Bildstraße vor dem Alten Museum von Schinkel - auf dem kontrastierenden Foto von 2005 das gleiche Areal mit Springbrunnen und vergnügten Flaneuren. Dazu die Kommentierungen: Einer der schönsten Plätze Berlins wird für politische Zwecke missbraucht – und: heute darf der Platz wieder sein, was er vormals war, ein Lustgarten.
Verehrter Autor, ich habe es längst gesehen. Sie entwerten damit die Bilder.

Aber wenn das das gesamte Buch bestimmte, würden wir den Band mit kühnem Schwung entsorgen. Es ist aber glücklicherweise nicht so – darum muss einen diese Fehlentscheidung doppelt ärgern.
Was also tut und kann der Text von Rathenow in seinen längeren Passagen?
Er kann wunderschön beschreiben. Er ist selten ideologisch, er erinnert an alltägliche Dinge, die die meisten Menschen so schnell vergessen, obwohl sie doch ihren Alltag stark geprägt haben. Rathenow zitiert immer wieder eigene alte Texte, die auch in den Jahren geschrieben wurden, als der Fotograf Hauswald seine Fotos machte. Diese tagebuchartigen Aufzeichnungen atmen Farbe und Tempo der DDR. Es war meistens slow motion, ruhig, zögernd, träge. Die Farbe Grau war die beherrschende Farbe. Nicht elegant, dezent oder edel – nein, in ihrer ruppigsten Ausführung, wirklich im besten Sinne proletarisch. Rathenow beschreibt Orte, Menschen, Gefühle. Hoffnungen, nicht selten Enttäuschungen, doch da verzichtet er auf die sattsam bekannte Larmoyanz: ja, im Westen ist eben auch nicht alles Gold, was glänzt. Die wurde ja bei zahlreichen DDR Dissidenten zu einer Attitüde, die ich mit Erstaunen beobachtet habe. Nicht so bei Rathenow, der durchaus Schattenseiten im neuen größeren Deutschland registriert – doch nicht mit Schadenfreude, sondern eher mit Traurigkeit. So wenn er über Karl schreibt, der 1985 aus dem Ost- in den Westteil der Stadt übersiedelte, dann eine Jahr später wieder zurück in den Osten ging und sich 89 über die Öffnung der Mauer freute. Und was macht er heute? Er hat sich ganz weit im Osten des Landes, dort, wo es sich noch fast wie DDR anfühlt, eine Nische gesucht? Rathenow wertet nicht – aber sein Text klingt traurig. Warum kommt da einer nirgendwo an?

Rathenow – und das macht die Texte besonders – prüft seine eigenen Aussagen von einst über das ungeliebte System und die geliebte Stadt und kommentiert seine Überlegungen von damals aus heutiger Sicht. Dabei ist er niemals der Oberschlaue, der es uns schon immer gesagt hat. Das wichtigste ist mir jedoch, dass der Ton aus Melancholie und Lakonie weder hasserfüllt die Vergangenheit aufarbeitet, noch in euphorische Zukunftsverzückung gerät. Dem Sachsen gelingt ein sehr berlinischer Ton.

Hauswald ist Chronist, verweigert sich billiger Gegenüberstellungen: damals - heute.
Doch es geht natürlich um diese Veränderung der Stadt. Aber es bleibt jedem überlassen, seine eigenen Schlüsse zu ziehen. Darum eben sind die kommentierenden Kurztexte von Rathenow so überflüssig. Bitte bei der nächsten Ausgabe darauf verzichten. Schlichte Orts- und Zeitangaben reichen völlig aus.

Hauswald hat in seinen alten Fotos gewühlt, prägnante Beispiele für städtische Situationen und soziale Verhaltensweisen gesucht und nach der Wende an den Orten wieder fotografiert – ohne die geringste Inszenierung. Doch oft hatte sich die Stadt selber inszeniert, in Szene gesetzt.

Einige Beispiele.
Das Brandenburger Tor 1983 von der Ostseite betrachtet. Durch ein Geländer wurde jeder Spaziergänger auf weite Distanz in Abstand gehalten. Sehnsuchtsblicke mussten genügen. Niemandsland, Grenzerland. Der gleiche Blick 17 Jahre später – im Jahr 2000. Das Niemandsland ist zum elegant bebauten Pariser Platz geworden. Ein Bus fährt in Richtung des Tores, überall parkende Autos, die Mittelpromenade von einer naiven schwarz-weißen Bärenparade bis zum Brandenburger Tor hin besetzt.

1981 auf dem Alexanderplatz: ein allgegenwärtiger Volkspolizist lässt sich von einem jungen Langhaarigen den Personalausweis zeigen. Personenkontrolle. Irgendwie ziemlich ungemütlich, wenn auch eine Portion Trotz in der Haltung des Jungen ablesbar ist. Neun Jahre später 1990 im Sommer: Ein junger Kerl zeigt acht oder neun Polizisten mit Helm und Gesichtsschutz einen aggressiven Stinkefinger. Er wird zum Mittelpunkt der Szene. Die Polizisten wirken beinahe hilflos.

Hauswald ist nie spektakulär mit seinen Bildern, sucht keine "Locations", sondern streunt durch die Wirklichkeit, die für seinen aufmerksamen Blick so viel Realität bereithält.

Hauswald ist mit dem Titel des Buches nicht ganz glücklich. Das lässt er die Leser ganz am Ende wissen. Ich kann ihm da nur beipflichten. Gewendet? Wer, was wohin? In der armen Zeit nach dem Krieg trug man oft aus purer Not gewendete Sachen. Sie waren genauso verschlissen wie vorher – nur sah man es nicht so genau. Für Hauwald war die zitierte Wende die Maueröffnung und seit dem konnte er weiter sehen und findet das bis heute lohnenswert. Die Genauigkeit hat sein Blick jedoch trotz der möglichen Fernsicht nicht eingebüßt.

Harald Hauswald und Lutz Rathenow: "Gewendet - Vor und nach dem Mauerfall"
Fotos und Texte aus dem Osten

Jaron Verlag
128 Seiten, 140 Fotos, 19,90 Euro