Vor der Hessenwahl

Wahlkampf um das rote Kassel

Im Vordergrund verschwommene Büsche, im Hintergrund der Wahlkampfbus des Spitzenkandidaten der Hessen-SPD Thorsten Schäfer-Gümbel.
In Hessen entscheiden die Wähler am Sonntag, ob der Weg des SPD-Spitzenkandidaten Thorsten-Schäfer Gümbel auf die Regierungsbank führen wird. © picture alliance / Frank Rumpenhorst / dpa
Von Anke Petermann · 23.10.2018
Kassel gilt als Festung der Sozialdemokratie. Doch ob die auch nach der Hessenwahl noch besteht? Ungewiss. Ein Besuch bei SPD-Wahlkämpfern, die den Kontakt mit Linken nicht scheuen. Denn alles sei besser als ein CDU-regiertes Hessen.
Fünf junge Sozialdemokraten stehen im Straßenwahlkampf bei ungemütlichen vier Grad – in "nordhessisch Sibirien", also Kassel. Ein Erfolg schon, wenn Passanten einen SPD-Flyer nehmen und wortlos weitergehen. Insgesamt, so gesteht die Jungsozialistin Nora Eisner, läuft dieser Wahlkampf-Morgen im Vorderen Westen "durchwachsen, sehr durchwachsen."
"Erstmal Leute, die schon wussten, wen sie wählen wollten, und dementsprechend keinen Bedarf an Infomaterial hatten, aber auch Leute, die mit unserer Partei gar nicht zufrieden waren und das lautstark kundgetan haben und sehr eindeutig uns mitgeteilt haben. Aber…"
…entmutigen lässt sich die junge Truppe nicht. Der Vordere Westen ist bei Studierenden beliebt, SPD-Ortsvereinschef Mario Lang zog nach dem Architektur-Studium dorthin zurück.
"Wir haben viele junge Leute, die noch im Juso-Alter sind, aber auch viele erfahrene Leute unter den 160, die bei uns im Ortsverein sind. Und das macht Spaß, weil wir miteinander und voneinander profitieren können und eine gute Gruppe sind."
Drei junge SPD-Wahlkämpfer vor ihrem Stand
Junge SPD-Wahlkämpfer in Kassels Vorderem Westen – in der Mitte Jungsozialistin Nora Eisner© Anke Petermann/Deutschlandfunk Kultur
Spaß haben im Schatten einer großen Verdruss-Koalition in Berlin? Mario Lang ist ein heiterer, verbindlicher Typ. Das unterscheidet den 44-Jährigen von SPD-Spitzenkandidat Thorsten Schäfer-Gümbel. Der kommt in diesen Tagen nicht immer gut gelaunt rüber. Noch was trennt Lang vom stellvertretenden SPD-Vorsitzenden und hessischen Landeschef TSG.
"Ich persönlich bin immer Gegner dieser großen Koalition gewesen, das ist auch mein eigener politischer Standpunkt, und den darf ich auch vertreten. Ich halte viel von Meinungspluralismus – bei uns im Ortsverein ist es so: Wir hören jedem zu, und wir diskutieren viel miteinander, und das, was Spaß macht, ist nicht die große Koalition, sondern das ist die Arbeit vor Ort."
Und deren Ergebnisse. Wie die komplett umgekrempelte Friedrich-Ebert-Straße durch Kassels Westen. Auf der verkleinerten Fahrbahn teilt sich der Autoverkehr jetzt den Raum mit der Straßenbahn. Das schafft Platz für breitere Bürgersteige mit Straßencafés. Dank neuem Mittelstreifen zwischen den Gleisen können Fußgänger jetzt problemlos queren. Mario Lang macht's vor.
"Finde ich großartig, das ist ne recht viel befahrene Straße, und wir haben 70 neue Bäume gepflanzt und Radwege hingekriegt, die wir vorher nicht hatten. Mit 'wir' meine ich tatsächlich Stadtgesellschaft, Ortsbeirat, Stadtverordnetenversammlung, und bürgerschaftliches Engagement im Stadtteil. Da gab es Workshops, und Runden und Vorstellungen - die Planer sind auf die Leute eingegangen, und das war ein richtig tolles Beteiligungsprojekt. Das motiviert auch, wenn man Sozialdemokrat ist, der sich hier vor Ort einbringt."

"19 Jahre CDU-Regierung in Hessen – das reicht"

Umwelt- und Klimaschutz – die Sozis im Vorderen Westen haben ihn nicht den Ökos überlassen. Die Grünen könnten den Genossen am Sonntag das Direktmandat für Kassel-Stadt abjagen. Doch die junge SPD-Truppe im Vorderen Westen zieht mit den Konkurrenten unverdrossen an einem Strang. Dass die Grünen die Nase vorn haben, sind diese Sozialdemokraten aus dem Ortsbeirat schon gewohnt. Alternative Verkehrspolitik favorisieren aber nicht alle in der Kasseler SPD. Das VW-Werk Baunatal liegt in der Nähe – und so mancher Sozialdemokrat glaubt, dass nur die autogerechte Stadt die Arbeitsplätze in der Autofabrik sichert. "Die Sozialdemokraten können sich nicht entschieden, wie immer", beobachtet die Aktivistin vom Verkehrsclub Deutschland, die in Kassel für einen zügigeren Ausbau von Radwegen wirbt. Die Hessen-SPD: zerrissen. Zerrissen fühlt sich auch Mario Lang selbst.
"Natürlich."
Im Straßenwahlkampf muss er sich schelten lassen für die sozialdemokratische Selbstaufgabe in der Berliner GroKo, dabei hofft er doch, "dass Rot-Rot-Grün vielleicht hier in Hessen eine Veränderung bringt. Ich glaube, 19 Jahre CDU-Regierung in Hessen – das reicht. Und ich bin auch genauso wie im Bund nicht dafür, dass es zu einer großen Koalition – oder … darf man ja gar nicht mehr große Koalition nennen, also zu einer Koalition von CDU und SPD kommt."
Eine Passantin auf dem Weg zur Straßenbahn-Haltestelle, Karin Höhre, stimmt zu: "Ich persönlich: Rot-Grün fände ich ganz gut". Doch an einen Erfolg glaubt sie nicht. "Das wird auch nicht reichen", sagt Höhre, die mit der SPD sympathisiert. Aufgrund des sozialdemokratischen Umfrage-Tiefs und neuer grüner Stärke rückt die Option Grün-Rot-Rot in den Blick. Statt Thorsten Schäfer-Gümbel stünde dann Tarek Al-Wazir vorn, derzeit stellvertretender Ministerpräsident im Bündnis mit der Bouffier-CDU.

Lieber ein grün-rot-rotes als ein CDU-regiertes Hessen

"Das wünsche ich mir als SPD-Mann natürlich erstmal nicht", kommentiert Mario Lang, Vorsitzender des Kasseler Ortsvereins Vorderer Westen. "Aber wenn ich für eine Veränderung bin, dann würde ich wahrscheinlich auch mit Grün-Rot-Rot gut leben können und auf jeden Fall besser leben können als mit einer CDU-geführten Landesregierung."
Die SPD als Juniorpartner der Grünen? Der Mittvierziger lächelt weg, was ältere Sozialdemokraten als größte Schmach empfinden würden. SPD-Spitzenkandidat Schäfer-Gümbel wirbt nicht für ein linkes Bündnis. Im Gegenteil: der Hesse plädiert für eine stärkere Abgrenzung von den Grünen, wirft ihnen Kontur- und Prinzipienlosigkeit vor. Und für die Linken lässt er ohnehin keine Sympathie erkennen.
"Ja also, dass sie das nicht tut", sagt eine weitere Sympathisantin über ihre SPD, "dass sie nicht in Richtung Linke guckt, finde ich gut, weil da doch manche Sachen einfach total überzogen sind." Aber, so moniert die SPD-Anhängerin: Noch nicht mal mit den ureigenen Wahlkampfthemen könnten die Genossen punkten. "Auch diese Mietpreisbremse, die wir haben, die funktioniert ja nicht."
Mietpreisbremse ohne Effekt – Mario Lang ist problembewusst. "Das ist ne richtige und gute Idee der SPD, die durch die CDU-Regierung in Berlin so runterverhandelt wurde, dass sie im Grunde nicht mehr zieht. Auch was jetzt nachverhandelt wird, zieht nur ein bisschen." Schwierig daher, Wähler von sozialdemokratischer Wohnungspolitik zu überzeugen.

Mit Linken reden? Ältere Sozialdemokraten bleiben reserviert

Am Nachmittag ziehen die SPD-Wahlkämpfer aus dem Vorderen Westen um ins belebtere Zentrum von Kassel. Die Blaskapelle Oberzwehren spielt auf. "Die junge SPD", witzelt einer über die Traditions-Combo. Zufällig haben SPD und Linke hier am Opernplatz ihre Wahlkampfstände genau nebeneinander. "Mieten-Wahnsinn stoppen", plakatiert die Linkspartei. "Das Thema hatten wir zuerst", spöttelt ein Juso. Ein paar Linke steigen ein in den edlen Wettstreit, man lacht zusammen. Ältere Sozialdemokraten bleiben dagegen reserviert.
Torsten Felstehausen, Kasseler Direktkandidat der Linken, kommentiert: "Na ja, die SPD in Nordhessen war gewohnt, immer gewählt zu werden mit satten Mehrheiten. Und es gibt, glaube ich, noch viele Genossinnen und Genossen in der SPD, die in dieser Überzeugung Politik gestalten wollen. Die Realität ist aber: Die SPD wird gestalterisch nur noch tätig sein können, wenn man tatsächlich auf andere zugeht. Und das ist ein Prozess, den muss man lernen."
Die hessische Linke hat in den Umfragen auf acht Prozent zugelegt. Dank Zulauf von Wählern, die unter Hartz IV und Rentenkürzung leiden, konstatiert Felstehausen. Dass diese Konkurrenten stärker werden, reißt in der SPD alte Wunden auf. Der parteiinterne Streit über die Sozialreformen der Ära Schröder schwelt ja immer noch. SPD-Mann Mario Lang schaut lieber in die Zukunft. Trotz Tiefs der eigenen Partei - seinen Wunsch-Koalitionären auf Landesebene gönnt er ihre Erfolge. Mit Grünen und Linken kämpften die Sozialdemokraten längst gemeinsam – zum Beispiel im örtlichen Aktionsbündnis gegen Entmietung, der Verdrängung angestammter Bewohner aus dem angesagten Gründerzeitquartier Vorderer Westen.
"Ich glaube, dass bei diesen Themen die Schnittmenge sehr groß ist." SPD-Ortsvereinschef Lang sucht aber auch aktiv danach – anders als die Parteiführung.
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