"Vor der endgültigen Niederlage"

Christian Wagner im Gespräch mit Dieter Kassel · 28.04.2009
Die Tamil Tigers kontrollierten einst große Teile Sri Lankas und galten als eine der erfolgreichsten Guerilla-Armeen. Nach Einschätzung von Christian Wagner wird der Kampf um Unabhängigkeit "in wenigen Wochen vermutlich zu Ende sein". Die Tamilen hätten sich "eigentlich selbst besiegt", sagte der Asien-Experte von der Stiftung Wissenschaft und Politik.
Dieter Kassel: Die Befreiungstiger von Tamil Eelam, weltweit eher bekannt unter der englischen Kurzform Tamil Tigers, haben in den 80er- und 90er-Jahren wesentliche Teile des Nordens und Ostens der Insel Sri Lanka kontrolliert und hielten über viele Jahre mit einem gigantischen Militärapparat die offiziellen Regierungstruppen der Singhalesen in Schach.

Das ist inzwischen vorbei, die Tamil Tigers kontrollieren ein Gebiet von noch etwa sieben Quadratkilometern im Norden Sri Lankas, sollen dort aber – die Zahlen unterscheiden sich je nach Quelle erheblich voneinander –, sollen dort zwischen 20.000 und 50.000 Zivilisten gefangen halten. Man muss kein Prophet sein, um nun festzustellen, dass der endgültige Sieg der Regierungstruppen über die tamilischen Rebellen unmittelbar bevorsteht.

Das aber bedeutet natürlich nicht zwangsläufig ein Ende des Konflikts und der Probleme auf Sri Lanka. Woher diese Probleme kommen und wie es ohne die Tamil Tigers auf der Insel weitergehen könnte, darüber wollen wir jetzt mit Christian Wagner reden. Er ist der Leiter der Forschungsgruppe Asien der Stiftung Wissenschaft und Politik und jetzt bei mir im Studio. Schönen guten Morgen, Herr Wagner!

Christian Wagner: Guten Morgen, Herr Kassel!

Kassel: Wir müssen das zunächst mal klären. Die Tamil Tigers, diese Befreiungsbewegung – ist es eine reine Terrororganisation oder nicht? Weltweit gibt es Staaten, die sagen eindeutig ja, viele sagen nichts, manche sagen immer noch nein. Was ist richtig?

Wagner: Die tamilischen Tiger haben sicherlich ihren Ursprung in einer politischen Bewegung, die eigentlich schon am Ende der Kolonialzeit beginnt und die dann eigentlich während der Unabhängigkeit die politische Entwicklung in Sri Lanka immer geprägt hat, nämlich eine Bewegung für eine größere politische und regionale Autonomie für die auf der Insel lebenden Tamilen im Norden und Osten. Dieser lange Zeit nur parlamentarisch geführte Konflikt ist dann in den 70er-Jahren eskaliert, dort sind auch die Ausgangspunkte dann für die LTTE zu finden, die sich dann zu einer militanten Organisation weiterentwickelt hat und seit Anfang der 80er-Jahre die sri-lankische Regierung eigentlich in einen der längsten und erbittertsten Bürgerkriege in Asien verstrickt hat.

Kassel: Die Tiger sind unter anderem die Erfinder des Selbstmordattentats und auch einiger anderer Methoden, die heute – ich sage das mal so zynisch – gängig sind bei allen Terrororganisationen der Welt. Das heißt, inzwischen muss man schon feststellen – die EU sagt das ja beispielsweise, die USA sagen das: Es ist eine Terrororganisation.

Wagner: Ja. Die Tiger sind in den letzten Jahren nach den Anschlägen vom 11. September beziehungsweise dann nach der Ermordung des sri-lankischen Außenministers als Terrororganisation auch offiziell eingestuft worden. Das hat natürlich eine Reihe von Nachteilen gebracht, zum Beispiel wurden die Finanzströme der tamilischen Diaspora natürlich genauer untersucht, es gab hier auch sehr starke Einschränkungen. Das heißt: Wir haben auch gesehen, dass natürlich durch diese Einstufung sich auch der Nachschub für die Tiger auf der Insel deutlich verschlechtert hat.

Kassel: Sri Lanka ist 1948 unabhängig geworden, zu einem eigenen Staat. Die Tiger haben sich in den 70er-Jahren gebildet und irgendwann dann begann auch der Bürgerkrieg. Was ist in der Zeit dazwischen denn schiefgelaufen – denn offenbar gab es ja den Konflikt im Prinzip immer zwischen Singhalesen und Tamilen, aber einige Zeit lang schwelte der ja friedlich vor sich hin?

Wagner: Ja, der Konflikt ist, wie gesagt, seit der Unabhängigkeit da, aber es gab nie eine politische Lösung. Wir hatten Ansätze in den 50er- und 60er-Jahren, aber es hat sich dann gezeigt, dass eigentlich die Lösung des Konfliktes immer durch singhalesisch-buddhistische Gruppen auf der singhalesischen Seite, also durch den Süden des Landes, verhindert wurde. Wir hatten Abkommen, die waren unterschriftsreif oder sind unterschrieben worden, die dann aber aufgrund der Opposition, auch der zum Teil gewaltsamen Demonstrationen und Ausschreitungen im singhalesischen Süden, nicht umgesetzt wurden.

In dem Sinne haben die Tamilen die Erfahrung gemacht, dass sie eigentlich mit den singhalesischen Regierungen zwar verhandeln konnten, parlamentarisch, aber dass es eben nie zu einer Lösung kam, die dann auch umgesetzt wurde. Aus dieser Frustration heraus haben sich dann natürlich in den 70er-Jahren militante Gruppen gebildet, die natürlich auch mit der Tradition ihrer Väter gebrochen haben, weil sie ihnen vorwerfen konnten: Ihr habt 30 Jahre verhandelt, was habt ihr erreicht? Nichts. Jetzt wird es Zeit, diesen Kampf eben auf eine neue Stufe zu heben, und damit setzte natürlich eine Militarisierung ein.

Kassel: Militarisierung ist ein wichtiges Stichwort. Die tamilische Befreiungstruppe hat es über Jahre, man muss fast sagen Jahrzehnte, geschafft, die Regierungstruppen gut in Schach zu halten, Teile der Insel, große der Teile im Norden und Osten unter ihre Kontrolle zu bringen. Man muss sich das noch einmal vorstellen: 75 Prozent der Menschen auf Sri Lanka sind Singhalesen und nur etwa 12, 13 sind Tamilen. Wie hat denn die Organisation einer doch so kleinen Bevölkerungsgruppe es so lange geschafft, wirklich die Regierungstruppen doch ernsthaft immer wieder zurückzudrängen?

Wagner: Die LTTE galt ja als eine der erfolgreichsten Guerilla-Armeen, es lag natürlich auch daran, dass die sri-lankische Armee zu Beginn natürlich nicht auf diesen Konflikt eingestellt war, das heißt, hier hatten die Tamilen natürlich Vorteile. Zudem gab es eine Phase in den 80er-Jahren, als die Tamilen auch von der indischen Regierung noch unterstützt wurden. Auch damals sind dann eine Reihe von tamilischen Gruppen in Südindien ausgebildet worden.

Das spielt heute keine Rolle mehr, aber ich denke, die fehlende Ausrüstung der sri-lankischen Armee, die natürlich, wie gesagt, nicht auf solche Kampfhandlungen eingestellt war, hat glaube ich dazu geführt, dass die tamilischen Tiger hier doch über die Jahre hinweg eine eigene, sehr gute Infrastruktur ausbilden konnten, die sie dann eben zu einer der mächtigsten Guerilla-Armeen machten mit einer eigenen Luftwaffe, mit eigenen Selbstmordkommandos, mit Fraueneinheiten und mit einer eigenen Marine.

Kassel: Jetzt stehen sie aber kurz vor der endgültigen Niederlage. Was ist da passiert?

Wagner: Man kann, glaube ich, durchaus sagen, dass sich die Tamilen eigentlich selbst besiegt haben. Ich denke, das wichtigste Ereignis war die Abspaltung eines Militärkommandanten, Karuna, der sich im Frühjahr 2004 von der LTTE abgespalten hat und damit relativ rasch der gesamte Osten des Landes verloren ging. Karuna war oder ist wichtig, weil er ein Militärführer ist, der natürlich dann auch Einblicke in die militärische Infrastruktur, Logistik, Organisation der LTTE hatte, und er wird dieses Wissen natürlich auch der Regierung zur Verfügung gestellt haben.

Ich denke, das war glaube ich der größte Schlag, den die LTTE erlitten hat und die Abspaltung resultierte eigentlich aus einer Unzufriedenheit Karunas mit der LTTE-Führung. Er vertrat die spezifischen Interessen der tamilischen Ostprovinz, die LTTE selber wird eigentlich von Tamilen aus der Nordprovinz dominiert, da gibt es immer wieder – auch kastenbedingt – Rivalitäten. Das hat eigentlich der Bewegung nicht nur militärisch das Rückgrat gebrochen, war natürlich auch politisch ein schwerer Schlag.

Zweiter Punkt, wo sich die Tamilen oder wo sich die Führung der Tamilen, glaube ich, verrechnet hat, war, als man bei der Präsidentenwahl 2005 Herrn Rajapaksa doch geduldet hat, dass er zum Präsidenten wird, ein nationalistischer Hardliner, bei dem ganz klar war: Mit dem wird man nicht verhandeln müssen. Man hätte, glaube ich, von Seiten der LTTE-Führung durchaus dafür sorgen können, dass der Oppositionskandidat gewinnt. Der hätte sicherlich die Verhandlungen noch mal angestoßen, das wäre eventuell auch für die Tiger schwieriger gewesen. Man wollte vermutlich einfach nicht verhandeln und dachte, mit einem Hardliner auf der anderen Seite ist es natürlich besser, nicht zu verhandeln, das ist auch der Internationalen Gemeinschaft leichter zu verkaufen.

Kassel: Um Missverständnisse aufzuklären: Die LTTE, das sind die Liberation Tigers of Tamil Eelam, das ist die Abkürzung des englischen Begriffs, Befreiungstiger von Tamil Eelam habe ich sie genannt, also die Tiger, wir meinen immer die gleichen. Christian Wagner ist im Gespräch im Deutschlandradio Kultur, der Leiter der Forschungsgruppe Asien der Stiftung Wissenschaft und Politik. Jetzt gehen wir von der tamilischen Seite mal weg und gehen hin zur singhalesischen auch, zur offiziellen Regierungsseite. Man kann natürlich leicht den Eindruck haben, wenn Sie klar sagen, die tamilischen Tiger sind inzwischen längst eine reine Terrororganisation, das sind die Bösen, und die anderen sind die Guten. Ist es so einfach?

Wagner: Ich glaube, so einfach stellt sich die Lage nicht dar, wir haben – bedingt durch den Konflikt in den letzten Jahren – auch massive Einschränkungen der Presse- und Medienfreiheit, auch die demokratischen Rechte haben deutlich gelitten in Sri Lanka. Es gibt immer wieder Berichte über verschwundene und ermordete Journalisten. Die demokratischen Traditionen des Landes haben eigentlich in den letzten Jahren unter dem Bürgerkrieg sehr stark gelitten.

Man darf auch nicht vergessen, dass der Krieg auch in den letzten 24 Monaten, wie in der letzten Phase jetzt, eigentlich unter Ausschluss der Öffentlichkeit geführt wurde, das heißt, die Armeeführung hat es abgelehnt, dass Journalisten berichten, dass zum Teil natürlich auch Hilfsorganisationen dann in die Gebiete gehen und der Zivilbevölkerung helfen. Ich denke, hier wird es in Zukunft darauf ankommen, die demokratischen Traditionen des Landes wieder zu stärken, vor allem die demokratischen Grundrechte wieder in Kraft zu setzen, wenn der Konflikt nun, wie es doch aussieht, in wenigen Wochen vermutlich zu Ende sein wird.

Kassel: Kann man das alles so zurückdrehen? Es sind Journalisten in Sri Lanka inhaftiert worden, es sind Journalisten immer wieder ermordet worden, es gibt keinen endgültigen Beweis, dass diese Morde im Auftrag der Regierung stattfanden, aber es gibt – ich will es mal so nennen – sehr qualifizierte Gerüchte, dass das in Einzelfällen so gewesen ist. Das ist ja eine bequeme Position für eine Regierung, die Pressefreiheit so weit eingeschränkt zu haben. Wird das einfach nur mit dem Ende der Tamil Tigers wieder abschaltbar sein?

Wagner: Das ist genau, glaube ich, die große Herausforderung, weil wir natürlich auf Seiten oder im singhalesischen Süden eine Reihe von auch sehr nationalistischen, militanten Gruppen und Parteien haben, die natürlich sich immer wieder gegen diese kritischen Journalisten gewandt haben. Das heißt, hier war es gar nicht nötig, dass von Seiten der Regierung irgendwelche Todesschwadronen oder Ähnliches in Gang gesetzt wurden, sondern es gibt natürlich eine ausreichende Zahl an militanten Gruppen, die dann zielgerichtet gegen solche regierungskritischen Journalisten vorgegangen sind oder gegen Journalisten, die sie zu nah an den Tamilen gesehen haben.

Es wird für die Regierung hier, glaube ich, ganz schwer, dieses Milieu wieder zurückzudrängen, hier wieder Ansätze von Rechtsstaatlichkeit durchzusetzen, auch mal Verhaftungen durchzunehmen oder die Mörder von Journalisten dingfest zu machen. Das sehe ich vergleichsweise skeptisch, solche Formen der Aufarbeitung gab es auf der Insel relativ selten. Hier bin ich auch skeptisch, dass wir eine solche positive Entwicklung sehen werden.

Kassel: Wie sehen Sie denn – das ist sehr schwer zu beurteilen, weil keine Journalisten da auch nur halbwegs nah ran dürfen –, wie sehen Sie denn die Lage der mindestens 20.000, das sind die Zahlen der Regierung in Colombo, und vielleicht sogar 50.000, so sagen es internationale Beobachter, Zivilisten, die jetzt noch von den Tamil Tigers quasi als Geiseln festgehalten werden? Es gibt neueste Meldungen, dass die Armee Sri Lankas doch wieder mit harten Waffen jetzt kämpft. Das hatte sie selber angekündigt, unterlassen zu wollen, daran hält sie sich offenbar nicht. Haben diese Menschen überhaupt eine Chance zu flüchten? Ich meine, wo wollen die hin?

Wagner: Ja, das ist natürlich dramatisch. Die einzige Fluchtmöglichkeit besteht nur darin, dass man sich in die Hände der Armee begibt. Dieser letzte Kampf wird auf sieben, acht Quadratkilometer Strand und Dschungel de facto ausgefochten, hier besteht eigentlich nur die Möglichkeit – und es gibt ja auch Berichte, dass eben die verbleibenden Kämpfer der LTTE, 200, 300 Leute, eventuell noch mit ihrem Führer Prabhakaran, offensichtlich diese Zivilisten auch nicht gehen lassen, weil sie natürlich wissen, das ist der Schutzschild, der sie quasi noch wenige Tage schützen wird vor der endgültigen Niederlage –, hier besteht eigentlich wirklich nur die Möglichkeit, dass die Zivilisten, wenn sie flüchten können, dann natürlich zur Armee übergehen, dort dann versorgt und verpflegt werden.

Für die Armee ist das Problem, dass für die Streitkräfte jeder Tamile über zehn Jahren, egal ob Mann oder Frau, natürlich ein potenzieller Kämpfer sein kann. Das heißt, hier wird natürlich auch die Armee gucken: Wer gehört zur Zivilbevölkerung, wer ist ein ehemaliger LTTE-Kader? Wie geht man mit diesen Leuten um? Auch da gibt es noch keine richtigen Regelungen.

Kassel: Christian Wagner, Leiter der Forschungsgruppe Asien der Stiftung Wissenschaft und Politik, zur aktuellen Lage und zur Zukunft Sri Lankas. Ich danke Ihnen für das Gespräch!