Vor dem Grauen die Augen verschließen

09.08.2010
Erinnern oder vergessen - wie sollte eine Gesellschaft mit ihrer Vergangenheit, mit Diktatur- und Gewalterfahrungen umgehen? Der Althistoriker Christian Meier sucht nach Antworten in der Geschichte.
Wenn schon, dann richtig. So vergangenheitsabgewandt die Deutschen in den ersten Nachkriegsjahrzehnten waren, so erinnerungsversessen sind sie heute. NS-Zeit, SED-Diktatur: Nur die Erinnerung schützt vor Wiederholung, lautet parteiübergreifend das Credo unserer Zeit. Christian Meier stellt dies in Frage. In seinem Essay fragt er danach, wie frühere Epochen mit "schlimmer Vergangenheit" umgegangen sind. Der erste Teil des Buchtitels wirkt wie eine Provokation: "Das Gebot zu vergessen". Doch Meier ist kein Polemiker – darauf deutet der zweite Teil des Titels hin: "und die Unabweisbarkeit des Erinnerns".

Also: Vergessen oder Erinnern? Menschheitsgeschichtlich hat das Vergessen eindeutig den Vorrang. "Nach Kriegen, Bürgerkriegen, Revolutionen ist in der Geschichte bis 1918 und zum Teil darüber hinaus .. ziemlich regelmäßig beschlossen worden, das Geschehene zu vergessen." So sollte drohende Rache für erlittenes Unrecht verhindert werden.

Meier untersucht dies vor allem an Beispielen aus seinem Spezialgebiet, der griechischen Geschichte. Im verordneten Vergessen äußere sich "eine auf Erfahrung beruhende Weisheit", zu der verschiedene Kulturen auf verschiedenen Erdteilen unabhängig voneinander gekommen seien. Bei den Griechen sei das Rachebedürfnis besonders ausgeprägt gewesen, daher war die Notwendigkeit, aus dem Teufelskreis der Gewalt herauszukommen, besonders groß. Das bewusste Verdrängen erlittenen Unrechts gehörte daher zu den bemerkenswerten politischen Leistungen der griechischen Poleis. So wurden die Griechen – erstmals nachgewiesen im Jahr 403 v. Chr. - die Erfinder der Amnestie.

Was hat das mit uns zu tun? Diesem Gedanken widmet sich der überwiegende Teil des Buchessays (der überarbeiteten Fassung einer Vorlesung, die Meier 1996 in der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften gehalten hatte). Denn nach Auschwitz stellt sich die Frage nach Erinnern und Vergessen grundlegend neu. Daran lässt Christian Meier keinen Zweifel: "Es war etwas geschehen, was in einem völlig neuen Sinn ungeheuerlich war." Aber – Meier stimmt nicht in den Chor der Kritiker ein, die den Deutschen der 50er-Jahre vorwerfen, dass sie die Vergangenheit vergessen wollten.

Adenauer lag genau auf der Linie der Griechen des Jahres 403 v. Chr., als er in seiner Regierungserklärung 1949 sagte, die Bundesregierung sei entschlossen, "Vergangenes vergangen sein zu lassen". Meier versucht zu verstehen und verständlich zu machen, dass eine lange Zeit der Abwendung vom grauenhaften Geschehen nötig ist, bevor eine Gesellschaft den Blick zurück wagen kann: "Aufs Ganze gesehen fragt sich, ob der Gesellschaft in den ersten Jahren der Bundesrepublik etwas anderes übrig blieb, als in dieser Situation zunächst einmal abzuschalten, sich taub zu stellen und das Geschehene zu beschweigen."

Dieser nüchtern historisierende Blick auf die Vergangenheitsbewältigungsgeschichte ist vielleicht die wichtigste Botschaft dieses Buches – neben der Erkenntnis, dass zur Vergangenheitsbewältigung früher in der Regel das Vergessen gehörte. Denn mit der Erkenntnis, dass nach Auschwitz das Erinnern unabweisbar ist, betritt Meier kein gedankliches Neuland. Sein Buch ist vor allem eine Aufforderung zum Weiterdenken – nicht zuletzt in Bezug auf die Frage des Umgangs mit der DDR-Geschichte, der er sich in einem Essay widmet, der diesem Band hinzugefügt worden ist.

Besprochen von Winfried Sträter

Christian Meier: Das Gebot zu vergessen und die Unabweisbarkeit des Erinnerns. Vom öffentlichen Umgang mit schlimmer Vergangenheit
Siedler Verlag, München 2010
160 Seiten, 14,95 Euro