Vor 60 Jahren

Von Dorothee Meyer-Kahrweg · 25.01.2006
Mit der "Proklamation Nr. 2" schafft Dwight D. Eisenhower das Land "Groß Hessen", später Hessen. Die Gründungsurkunde ist auf den 19. September 1945 datiert und unterzeichnet vom Obersten Befehlshaber der amerikanischen Streitkräfte in Europa.
Dass des Generals Vorfahre aus dem südhessischen Eiterbach (Odenwald) stammte und 1741 nach Amerika auswanderte, sei nur am Rande erwähnt. Nach der Gründung des Bundeslandes setzt sich das "rote Hessen" wirtschaftlich an die Spitze der Flächenländer. Und die 1962 ausgegebene Parole "Hessen vorn" stimmte viele Jahre lang.

6. Mai 1945 – Dwight D. Eisenhower, Oberbefehlshaber der anglo-amerikanischen Streitkräfte in Europa, feiert den Sieg der Allierten über die Truppen Hitlers.
Eisenhower, dessen Vorfahren 1741 aus dem südhessischen Eiterbach nach Amerika aufbrachen, findet das Land in Trümmern. In Hanau sind 86 Prozent aller Wohnungen zerstört, in Frankfurt, Darmstadt und Kassel 75 Prozent.

"Es war so ein schrecklicher Anblick. Denn ich als Kind kannte das alte Kassel so dermaßen gut und jetzt steht man davor und die Stadt gibt es nicht mehr. Es war ja alles nur noch ein Trümmerhaufen, es war ja nicht ein einziges Haus, was überhaupt noch gestanden hat. "

So erinnert sich Hans Germandi, damals junger Soldat, an seine ausgebombte Heimatstadt. Die Überlebenden hausen in Baracken, Luftschutzkellern oder Bunkern.
Trotz dieser Not finden sich schon in den ersten Wochen nach Kriegsende Menschen zusammen, um das Land politisch wieder aufzubauen. Erst einmal gegen den Willen der amerikanischen Besatzer, wie sich Eugen Kogon erinnert, langjähriger Gefangener im KZ Buchenwald und Mitbegründer der CDU:

"Erst im Spätherbst 1945 wurden hier im Westen die Parteien zugelassen. Ursprünglich hatten die Amerikaner vor, mindestens zwei Jahre lang keine Parteien zuzulassen. Nur Reeducation – sollten andere Gesinnung gewinnen. Aber, schon während der Potsdamer Konferenz hatte Stalin in der Sowjetischen Besatzungszone vier Parteien zugelassen. Infolgedessen konnte man im Westen nicht beliebig warten. "

Einer der ersten, die sich politisch engagieren, ist Georg Buch. Der ehemalige Landtagspräsident war im August 1945 aus dem KZ Buchenwald zurückgekehrt und macht sich sofort an den Wiederaufbau der Wiesbadener SPD.

"Das geschah damals mittels eines Fahrrades. Mein Bereich war – regional betrachtet - Wiesbaden, Rheingau, Taunus und Limburg. Ich bin also bis auf den Westerwald mit dem Rad gefahren und habe alte Freunde aufgesucht, die also begeistert waren. Und so haben wir sukzessive die SPD von Ort zu Ort aufgebaut. "

Am 19. September 1945 proklamiert Eisenhower das Land "Groß-Hessen". Es besteht aus dem größten Teil der ehemaligen preußischen Provinz Kurhessen und Nassau und dem früheren Volksstaat Hessen.
Am 1. Dezember 1946 nehmen die Bürger die hessische Verfassung mit großer Mehrheit an. Das Land wird in "Hessen" umbenannt.

Bei der gleichzeitig stattfindenden Landtagswahl geht die SPD als Sieger hervor und bildet mit der CDU eine große Koalition. Erster gewählter Ministerpräsident Hessens wird Christian Stock von der SPD. Die Anfangszeit ist bitter – wie sich Christian Stock 1959 erinnert:

"Ich weiß mich zu erinnern mit den Arbeitern der Hoechster Farbwerke gesprochen zu haben, dass sie eine Stunde abends länger arbeiteten, damit sie mehr künstlichen Dünger erzeugen, um das den Landwirten zur Verfügung zu stellen. Und ich konnte den Arbeitern dafür nur einen Teller Schleimsupp bieten. "

Verschärft wird die katastrophale Versorgungslage durch den Flüchtlingsstrom. Hessen nimmt insgesamt fast eine Million Heimatvertriebene und Flüchtlinge auf.
Erst im Jahr 1948 bessert sich die Lebenssituation schlagartig durch die Währungsreform.
Aber auch der Marshallplan hilft beim Wiederaufbau des Landes.
1959 blickt Christian Stock auf seine Amtszeit zurück, in der er viele Weichen für die Zukunft Hessens stellte.

"Wir haben als erstes Land das Urlaubsgesetz eingeführt, den gesetzlichen Urlaub für Erwerbstätige, 14 Tage oder 12 Arbeitstage für Arbeiter und Angestellte und vier Wochen für die Lehrlinge, wir waren das erste Land, das das Betriebsrätegesetz eingeführt hat, es gab damals schwere Auseinandersetzungen speziell mit General Clay, die unter keinen Umständen dazu bereit waren, derartige Gesetze zu unterschreiben oder zu billigen, aber es ist dann doch geschehen. Sozialpolitisch waren wir in Hessen, dank des guten Einvernehmens der Regierungskoalition, die aus SPD- und CDU-Leuten bestand, doch bahnbrechend in verschiedenen Dingen. "

Stock wird kurz nach den Landtagswahlen im November 1950 von dem Sozialdemokraten Georg August Zinn abgelöst. Damit endet auch die große Koalition. Von nun an regiert die SPD allein oder mit kleinen Koalitionspartnern unangefochten bis in die 80er Jahre. Hessen wird "rot".

"Ich bin, wie sie wissen, selbst Hesse. In Frankfurt am Main geboren und in Kassel aufgewachsen und fühle mich darum dem Süden und dem Norden unseres Landes gleich eng verbunden. "

Der waschechte Hesse Georg August Zinn wird zum patriachalen Landesvater, der bis zum Jahr 1969, und damit fast 20 Jahre lang, die Geschicke des Landes als Ministerpräsident bestimmt. Ende 1960, nach zehn Jahren Amtszeit, zieht er eine Zwischenbilanz.

"Ich will nur an eines erinnern, an die Stadt Allendorf in Nordhessen, ehemals ein Rüstungszentrum, heute eine blühende Industriestadt oder ich kann an den Landkreis Eschwege erinnern, ein Grenzkreis an der Zonengrenze, der seit 1918 an einer chronischen Arbeitslosigkeit litt und heute ein blühender Industriekreis Nordhessens ist. "

Es ist die Zeit des Wirtschaftswunders, in der auch Hessen gewaltig nach vorn kommt. Dabei hat Georg August Zinn durchaus mit Problemen zu kämpfen. Hessen liegt an der Grenze des seit 1949 in zwei Staaten geteilten Deutschlands und der Flüchtlingsstrom von dort wächst: Im Juli 1961 melden sich an einem einzigen Wochenende im Gießener Notaufnahmelager 1500 Flüchtlinge von "drüben". In Berlin beginnt der Bau der Mauer und bald zieht sich ein Stacheldrahtzaun entlang der gesamten hessisch-thüringischen Grenze. Nachbarn, Freunde und Verwandte werden für viele Jahre getrennt.

Brandau: "Ich habe hier erlebt, vergangenen Sommer, dass ne Frau, die hier stand und weinte, und fragte, was ist denn los, ich kannte sie. Die stammte aus Dankmarshausen, ist nachher hierher verheiratet. Ja, sagte sie, da drüben wird jetzt mein Vater begraben. Ich habe keine Erlaubnis bekommen, um zum Begräbnis da zu sein."

"Hessen vorn" heißt die Parole der SPD im Landtagswahlkampf 1962, bei dem die Partei zum ersten Mal die absolute Mehrheit erringt. In dieser Legislaturperiode entwickelt Ministerpräsident Georg August Zinn den "Großen Hessenplan", ein Investitionsprogramm für die Bereiche Soziales, Kultur, Bildung, Wirtschaft und Verkehr, das zunächst auf zehn Jahre ausgelegt ist.

"Das gesamte Investitionsvolumen (...) umfasst einen Betrag von 33 Milliarden. Davon wird das Land den größten Teil aufbringen müssen, mindestens 13,5 Milliarden aufbringen. "

Vor allem Süd-Hessen boomt: Frankfurt wird Finanzmetropole und der Frankfurter Flughafen der drittgrößte West-Europas. Hessen entwickelt sich zum "roten Musterland". Einem Musterland, in dessen Hochschulen es zu rumoren beginnt.

1968 wird Frankfurt neben Berlin zum Zentrum der APO, der Außerparlamentarischen Opposition, die sich als Gegenmacht zur großen Koalition in Bonn versteht. Studenten prangern unter den Talaren "den Muff von 1000 Jahren" an. Sie fordern mehr Mitbestimmung an der Universität, und demonstrieren gegen den Vietnamkrieg und die von der Bundesregierung befürworteten so genannten Notstandsgesetze.
Im Mai 1968 besetzen Studenten die Frankfurter Universität.

"Hauruck – Hauruck. (Reporter: ) Die Aufforderung von Professor Ellwein, die Eingänge der Universität nun freizugeben, greift der Senat unter Führung von Professor Rüegg, dem Rektor der Frankfurter Universität, selbst zu, räumt die Barrikaden weg, die Balken, die Eisengitter und die Baumaterialien. "
1969 endet die Ära August Zinns. Nach einem Schlaganfall macht er dem SPD-Politiker Albert Osswald Platz. Die Hessische Landesregierung lässt sich vom Reformeifer der Studenten anstecken. Im Mai 1970 beschließt der Hessische Landtag, gegen den Widerstand der Hochschuldirektoren, die Hochschulselbstverwaltung. Zudem erneuert der hessische Landtag die Schulgesetze, wodurch "Gesamtschulen" begünstigt werden. Als 1972 neue Rahmenrichtlinien für den Schulunterricht ankündigt werden, befürchten Kritiker, dass vor allem mit den Richtlinien für Deutsch und Gesellschaftslehre eine "sozialistische Gesellschaftsveränderung" herbeigeführt werden solle.
Arnulf Borsche, Kulturpolitischer Experte der CDU während des Landtagswahlkampfes 1974:

"Die Rahmenrichtlinien werden wir sofort aus dem Verkehr ziehen und sie ersetzen durch Unterrichtsrichtlinien, die wir erarbeiten lassen wollen von Pädagogen aller wissenschaftlichen Richtungen, aber nicht von Parteipolitikern. "

Die Rahmenrichtlinien werden zwar überarbeitet, doch ganz kann die CDU ihre bildungspolitischen Vorstellungen nicht durchsetzen – sie wird zwar erstmals stärkste Partei, doch die SPD kann mit der FDP weiter regieren.

1976, zwei Jahre später, muss Ministerpräsident Albert Osswald jedoch zurücktreten. Als Vorsitzender des Verwaltungsrates der Hessischen Landesbank HELABA, wird er für deren Milliardenverluste durch riskante Kreditgeschäfte verantwortlich gemacht.
Sein Nachfolger, der SPD-Politiker Holger Börner, wird mit dem neuen Umweltbewusstsein seiner Bürger konfrontiert.

"Dieser Politik aus Stein, Stahl, Beton und Plutonium wird es ergehen, wie den Dinosauriern in der Kreidezeit. Die wurden immer größer und je größer sie wurden, desto lebensuntauglicher wurden sie. Schließlich mussten sie aussterben, weil sie sich vollständig im Widerspruch zu der sie umgebenden Natur entwickelt haben … "

1978. Zum ersten Mal kandidieren Grüne Gruppierungen um die Sitze im Landtag. Zersplittert, scheitern sie 1978 noch an der Fünf-Prozent-Hürde. Doch ein Jahr später schließen sie sich zum hessischen Landesverband der "Grünen" zusammen. Beachtung finden sie vor allem wegen der immer drängender werdenden Umweltprobleme, denen die Landesregierung nicht Herr wird: Der Main gilt als Kloake und für den Baustop der Startbahn West, für die viele Hektar Wald abgeholzt werden sollen, gehen 100.000 Menschen auf die Straße.

1984 geht die Startbahn trotz aller Proteste in Betrieb.

Landeswahlleiter Beckmann: "Ich gebe das vorläufige Endergebnis der Landtagswahl bekannt: ... und die Grünen neun Sitze. "

Im September 1982 ziehen die Grünen zum ersten Mal in den Landtag ein.
Da die SPD keine Mehrheit hat und keine Koalition mit den Grünen eingehen will, bleibt Holger Börner nur geschäftsführend im Amt. Auch Neuwahlen im Jahr 1983 bringen keine eindeutige Mehrheit.
Erst 1985 gehen Grüne und SPD eine Koalition ein, und Joschka Fischer wird erster Grüner Umweltminister eines Bundeslandes. Zu seiner Vereidigung erscheint er in Turnschuhen.

"Ich bitte sie, die rechte Hand zu erheben und mir die Eidesformel nachzusprechen. Ich schwöre, dass ich das mir übertragene Amt unparteiisch nach bestem Wissen und Können, verwalten sowie Verfassung und Gesetz in demokratischem Geiste befolgen und verteidigen werde. – Herr Präsident, damit ist die Vereidigung vorgenommen. "

26. April 1986: Das, was Umweltschützer immer befürchteten, tritt ein. Im sowjetischen Kernkraftwerk in Tschernobyl kommt es zum GAU, zum größten anzunehmenden Unfall. Auch in Südhessen wird ein Ansteigen der Radioaktivität registriert. Die Grünen fordern daraufhin die Abschaltung aller Atomanlagen. Ohne Erfolg.
Im Februar 1987 bricht die Koalition mit der SPD daher auseinander. Joschka Fischer:

"Wenn eine Ausstiegsvereinbarung da ist, bin ich und war ich entschiedener Vertreter von Rot-Grün, aber nie gegen die Aufgabe unserer Grundsätze, damit das auch klar ist. Entweder wir kommen zu einer atomfreien Politik hin, oder aber wir Grüne haben unseren Platz in der Opposition. Aber klar ist auch, dass wir für ein Wallmannfreies Hessen kämpfen …"

Das schaffen die Grünen nicht. Bei den vorzeitigen Landtagswahlen im April 1987 erleidet die SPD schwerste Verluste. Das "Rote" Hessen wird schwarz. Neuer Ministerpräsident wird Walter Wallmann von der CDU. Für ihn eine ganz besondere Freude ...

"... hier in Hessen, weil eben zum ersten Mal die andere große Partei, nämlich die Sozialdemokraten, nicht den Regierungschef stellen. "

Zwei Jahre später, am 9. November 1989 fällt die Grenze zur DDR.
Nachbarn, über Jahre getrennt, liegen sich an der hessisch-thüringischen Grenze in den Armen.

"Das ist der schönste Tag seit Kriegsende, den ich hier erlebe. Ich bin hier geboren, ich habe die Straße früher ewig benutzt nach Mühhausen rüber, ob das als Kind mit dem Fahrrad oder später mit dem Lastwagen war, als wir Kies gefahren haben nach Mühlhausen rüber, das ist der schönste Tag, den ich jemals erleben kann. "
Ministerpräsident Walter Wallmann legt ein Hilfsprogramm für Thüringen auf, um den Aufbau im Nachbarland voranzutreiben.
Seine Regierungszeit bleibt jedoch ein Intermezzo: Schon bei den nächsten Landtagswahlen im Januar 1991 verliert die CDU/FDP-Koalition ihre Mehrheit wieder. Neuer Ministerpräsident wird Hans Eichel von der SPD, der erneut eine Koalition mit den Grünen bildet. Doch wieder gibt es Streit um die Atom-Anlagen. Er entzündet sich unter anderem am Atomkraftwerk Biblis A, dem Pannenreaktor, wie er auch genannt wird.
Gesundheitsministerin Iris Blaul von den Grünen, im Jahr 1992:

"Die Atomaufsicht ist nach umfangreichen Untersuchungen zu dem Ergebnis gekommen, dass das Atomkraftwerk Biblis A nach Abschluss der derzeit andauernden Jahresrevisionen nicht mehr in Betrieb genommen werden darf. "

Aber der Reaktor bleibt am Netz.
Nach wirtschaftlich noch einmal sehr erfolgreichen 80er Jahren, gerät Hessen in den 90ern in eine Schieflage: 1997 ist jeder siebte erwerbsfähige Hesse arbeitslos, insgesamt sind es 143.000.
Keine gute Ausgangslage für die Landtagswahl 1999. Tatsächlich kommt der politische Wechsel: Mit einer umstrittenen Unterschriftenaktion gegen die doppelte Staatsbürgerschaft kann die CDU einen knappen Sieg erringen. Hessen wird wieder von einer Koalition aus CDU und FDP regiert. Ministerpräsident ist nun Roland Koch von der CDU.

"Für uns als CDU steht fest: nach diesem Abend ist klar, mit uns muss jeder in Deutschland auch in Zukunft rechnen. Das haben wir heute bewiesen. "

Kaum ist Roland Koch im Amt, kommt die Schwarzgeld-Affäre ans Licht. Manfred Kanther, früherer Generalsekretär der CDU Hessen, gesteht, mit mehreren Millionen Mark Parteivermögen, in der Schweiz eine Schwarze Kasse angelegt zu haben.

60 Jahre Hessen: Als die US-Militärregierung 1945 das Land Groß-Hessen proklamiert, ist dies ein Wagnis – schafft sie doch ein völlig neues politisches und soziales Gebilde. Das Experiment gelingt: Hessen wird schnell zum wirtschaftlich erfolgreichen "roten Musterland".
In den 70er Jahren nimmt Hessens Bildungspolitik eine Spitzenstellung ein und ist 1985 das erste Bundesland mit einem Grünen Umweltminister.
Das Jahr 1989 schafft für Hessen durch die Grenzöffnung zur DDR eine wichtige Zäsur – die auch mit der Hoffnung auf weiteren wirtschaftlichen Aufschwung verbunden ist. Doch in den 90er Jahren steigen Schulden und Arbeitslosigkeit rasant an.