Vor 275 Jahren wurde Georg Christoph Lichtenberg geboren

Knall, Rauch und viele Sudelbücher

Skulptur von Georg Christoph Lichtenberg in Göttingen
Skulptur von Georg Christoph Lichtenberg in Göttingen © imago stock&people
Von Matthias Kußmann · 27.06.2017
Hans-Jochen Vogel kommt aus Göttingen, ebenso wie Max Goldt. Aber diese beiden Sterne verblassen hinter Georg Christoph Lichtenberg, dem Universalgenie. Elektrizität und Naturlehre waren seine Felder. Und viele Kalenderredaktionen wäre heute pleite, gäbe es Lichtenberg nicht.
"Wir wohnen in Göttingen in Scheiterhaufen, die mit Türen und Fenstern versehen sind …"
schreibt Georg Christoph Lichtenberg einmal.
"Die ganze Stadt ist in Fachwerkstil gebaut und natürlich eine enorme – gerade für den ängstlichen Lichtenberg – eine enorme Bedrohung bei einer Brandkatastrophe." Ulrich Joost beschäftigt sich seit Jahrzehnten mit Lichtenberg. Er hat zahlreiche Werke von ihm kommentiert und herausgegeben. "Es gibt sehr viele, auch sehr abfällige Bemerkungen auf die Stadt – die ihm sehr ans Herz gewachsen ist und die er auch gar nicht mehr verlassen mochte." Denn in Göttingen entwickelt sich Lichtenberg zu einem wichtigen Physiker und zu einer Hauptfigur der deutschen Frühaufklärung. Geboren wird er am 1. Juli 1742 im hessischen Ober-Ramstadt, als Sohn eines evangelischen Pfarrers, doch er tut sich lebenslang schwer mit Religion und Kirche und attackiert sie immer wieder:
"Ich glaube kaum, dass es möglich sein wird zu erweisen, dass wir das Werk eines höchsten Wesens – und nicht vielmehr zum Zeitvertreib von einem sehr unvollkommenen sind zusammengesetzt worden."
1763 geht Lichtenberg nach Göttingen und studiert Physik, Mathematik und Astronomie. Wie andere Aufklärer will er, dass sich Menschen nicht länger von der Kirche vorschreiben lassen, was sie denken und tun. Sie sollen sich mit der eigenen Vernunft aus der "selbst verschuldeten Unmündigkeit" befreien, wie der Philosoph Kant es nannte. Doch Lichtenberg weiß, dass Vernunft nicht alles ist, dass sie ohne Gefühl in ihr Gegenteil umschlagen kann. Daran erinnert eine Bronzeplastik bei der alten Göttinger Staats- und Universitätsbibliothek.
"In diesem Akademiehof sitzt seit 1992 Lichtenberg auf einer Bank, vor sich auf einer Bank ein Buch, aufgeschlagen. Da steht ein Lichtenbergzitat drin: 'Das viele Lesen hat uns eine gelehrte Barbarei beschert.' Da kann und muss man heute auch drüber nachdenken, und betroffen sein darf man…" sagt Klaus Hübner, Geschäftsführer der Göttinger Lichtenberg-Gesellschaft. "Denn das, was uns die Aufklärung vor über 200 Jahren hat bringen sollen, mehr Vernunft – das ist so weiß Gott bis heute ja nicht eingetreten, wenn man an Katastrophen und Kriege und Missbrauch auch von Wissenschaft und Literatur denkt."

Sein Leben lang schrieb er Sudelbücher

Der große Geist Lichtenbergs wohnte in einem kleinen verwachsenen Körper mit einem Buckel: "Er ist nicht, wie das in den alten Lexika immer steht, durch den unglücklichen Fall, verursacht durch eine Amme als Kind, sondern wahrscheinlich durch Rachitis bereits im Kindesalter schwer verbuckelt worden. Er war am Ende nicht viel größer als 1,44 Meter. Durch diese Rachitis, von der er das hatte, war sein Oberkörper so verdreht, dass er lebenslang unter einer zunehmenden Lungen- und danach einer Herzinsuffizienz gelitten hat: kurzatmig, ein krampfartiges Asthma, was ihn begleitete."
Vom Studium bis zu seinem Tod macht Lichtenberg Notizen in Hefte, die so genannten "Sudelbücher". Sie sind sein Hauptwerk: eine Mischung aus Scharfsicht, Spott, Ironie – auch Selbstironie –, Melancholie und Humanität, wie es sie sonst kaum gibt in der deutschen Philosophie. Bejubelt von Schopenhauer, Nietzsche und Tucholsky bis Robert Gernhardt. "Das ist eine Philosophie des Alltags, groß und klein, und es ist noch lange nicht alles ausgeschöpft. Das ist auch der Grund dafür, warum wir ihn heute noch lesen. Er hinterlässt uns immer noch Lücken zum Nachdenken, zum Weiterdenken. Die Anregungskraft dieser Bücher ist exorbitant", so Joost.
Rund 8000 Notizen sind erhalten: Reflexionen, Porträts, Satiren, Wort- und Gedankenspiele und die Aphorismen, die Lichtenberg bis heute bekannt machen. Er kann komplexe Überlegungen zu ein, zwei Sätzen zuspitzen, ebenso verständlich wie anschaulich. Manche sind heute geflügelte Wörter:
"Ein Buch ist ein Spiegel, wenn ein Affe hineinguckt, so kann freilich kein Apostel heraus sehen."
"Wie geht es, fragte ein Blinder einen Lahmen; wie Sie sehen, war die Antwort."
"Der Amerikaner, der den Kolumbus zuerst entdeckte, machte eine böse Entdeckung..."
Doch Lichtenberg war nicht nur Philosoph, sondern auch ein bedeutender Naturwissenschaftler, was heute kaum bekannt ist. Während des Studiums erkennt ein Professor sein Talent und lässt ihn an der Sternwarte mitarbeiten. Sie befindet sich auf einem Turm der Göttinger Stadtmauer, wird aber später abgerissen. Klaus Hübner steht an der Stelle in der heutigen Turmstraße: "Lichtenberg hat dann schon in jungen Studentenjahren astronomische Beobachtungen hier auf dieser alten Sternwarte durchgeführt. Er hat hier also seine ersten astronomischen Erfahrungen gemacht und die haben ihm dann ja auch später mehrere Aufträge eingebracht. Er hat für den englisch-hannoverschen König Georg den dritten astronomische Landesvermessungen in Hannover, Stade und Osnabrück durchgeführt."

Er erfand das fortlaufende Experiment

1775 wird Lichtenberg ordentlicher Professor an der Göttinger Universität, er liest über Naturlehre und Experimentalphysik. Er zieht in das Haus des Verlegers Johann Christian Dieterich in der Gottmarstraße. Heute trägt es Lichtenbergs Namen und beherbergt das Künstlerhaus. Der Professor ist beliebt bei den Studenten, es knallt und raucht in den Vorlesungen.
"Das ist seine große hochschuldidaktische Leistung. Lichtenberg hat von Anfang an versucht, seinen Physikunterricht mit 'fortlaufendem Experiment' zu begleiten. Man hat bereits 1790 ungefähr 600 Experimente pro Semester bei ihm gezählt", sagt Joost. - Das macht rund fünf Experimente pro Stunde.
"In Colegiis über die Experimentalphysik muss man etwas spielen; der Schläfrige wird dadurch erweckt, und der wachende Vernünftige sieht Spielereien als Gelegenheiten an, die Sache unter einem neuen Gesichtspunkt zu betrachten."
"Wir stehen jetzt im Lichtenberg-Haus im ersten Obergeschoss im großen Eckzimmer. Hier ist der Raum, wo Lichtenberg seine Vorlesungen gehalten hat, wo sich dann um die 100 Studenten in jedem Semester gedrängt haben, um Lichtenbergs Experimentalphysik zu lauschen und den Experimenten beizuwohnen. Es muss sehr eng und sehr feucht gewesen sein. Lichtenberg hat geschrieben: 'Wenn doch ein Gerät erfunden würde, die Luft zu trocknen...' In der feuchten Atemluft floss das Kondenswasser im Winter schon an den Scheiben herunter. Dann konnte er seine elektrostatischen Experimente nicht durchführen."
1777 lernt der Professor ein 12-jähriges Mädchen aus einfachem Haus kennen, Maria Dorothea Stechard. Als sie 14 ist, nimmt er sie mit Zustimmung ihrer Mutter zu sich – was damals nicht unüblich ist: Mädchen gelten nach der Konfirmation als "heiratsfähig". Er versorgt sie und gibt ihr Unterricht, was ihr Part ist, kann man sich denken. Doch mit der Zeit scheint er sie wirklich geliebt zu haben.
Zwei Jahre später starb sie ihm, und das war wohl der größte persönliche Verlust, den er in seinem Leben gehabt hat, wie man seinen Briefen entnehmen kann.
"O du großer Gott! Und dieses himmlische Mädchen ist mir am vierten August 1782 abends mit Sonnen-Untergang gestorben. Ich hatte die besten Ärzte, alles, alles in der Welt ist getan worden. (…) Es ist mir unmöglich, fortzufahren…"
Im Jahr, als er das Mädchen kennen lernt, entdeckt er die nach ihm benannten "Lichtenberg-Figuren". Mit ihnen lässt sich die Bipolarität der Elektrizität nachweisen. Er schlägt vor, positive und negative Ladung mit "+" und "–" zu kennzeichnen, was bis heute so üblich ist. Daran erinnert eine Bronzestatue beim Göttinger Rathaus. Lichtenberg steht, realistisch gestaltet, ohne Podest zwischen den Menschen, die am Rathaus vorbeigehen. In der Hand hat er eine Kugel mit den Zeichen "+" und "–", als Hinweis auf seine Entdeckung.
"Daran erinnert diese Kugel, die blankgeputzt ist, weil viele Göttinger, auch Kinder, hier vorbeikommen und über diese Skulptur oder die Kugel streichen. Man hört dann oft, 'du musst die noch streicheln, das bringt Glück.' Von daher ist Lichtenberg auch den Göttingern als Glücksbringer bekannt."
Da der Physik-Professor Angst vor Gewittern hat, wirkt er an der Entwicklung des Blitzableiters mit, den er denn auch "Furchtableiter" nennt.

...und ein Spezialist in Sachen "Blitzableiter"

"Es geisterte damals immer noch die Vorstellung, dass man die Eisenstange gar nicht bis zur Erde führen musste. Lichtenberg war tatsächlich der erste, der dezidiert erklärt hat: Ein Blitzableiter hat nur dann Sinn, wenn er tief in die Erde hineinragt, am besten bis zu einer Wasser führenden Schicht; wenn er außerdem, im optimalen Fall, das ganze Gebäude umschließen kann. Damit hat er im Grunde unser heutiges Wissen bereits komplett vorweggenommen", so Joost.
Lichtenberg stirbt am 24. Februar 1799 mit 57 Jahren in Göttingen. 500 der damals 700 Studenten sollen ihm die letzte Ehre erwiesen haben.
"Wir stehen an Lichtenbergs Grab auf dem Bartholomäus-Friedhof an der Weender Landstraße."
Daneben ist seine Frau Margarete begraben, die er nach dem Tod der jungen Maria Dorothea kennen lernte. Mit ihr hatte er acht Kinder.
"Ein Grab ist doch immer die beste Befestigung wider die Stürme des Schicksals"
, schrieb er einmal, doch da hat sich der kluge Mann geirrt. 1983 kommt ein Arzt auf die Idee zu schauen, welche Krankheiten Lichtenberg außer der verkrümmten Wirbelsäule hatte. Die Nachkommen sind einverstanden.
"Man hat dann diese Grabstätte geöffnet, und Lichtenbergs Grab war leer. Man hat dann außerhalb ein Grab gefunden, was man geborgen und untersucht hat. Dann gab es hinterher Gutachten, wo es geheißen hat: Das wird der Lichtenberg gewesen sein", weil das Skelett ebenfalls ein krummes Rückgrat hatte. Doch das war zu Lichtenbergs Zeit keine Seltenheit.
"Es gab dann allerdings auch Gegengutachten, die gesagt haben: Die Proportionen scheinen aber nicht so ganz zu stimmen, der ist auch zu groß und der Kopf ist zu klein, wenn man das mit einigen Bildern vergleicht."
Wo Lichtenbergs so genannte "sterbliche Reste" liegen, weiß also niemand. Die Familie hatte auf dem Friedhof mehrere Gräber, die heute aufgelassen sind. Man müsste reichlich Erde umgraben, um weiter zu suchen. Lichtenberg hätte derlei Bemühungen wohl spöttisch betrachtet... Halten wir uns also an sein Denken, das bleibt – und blicken mit ihm in die Zukunft:
"Ich kann freilich nicht sagen, ob es besser werden wird, wenn es anders wird. Aber so viel kann ich sagen: es muss anders werden, wenn es gut werden soll."
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