Vor 200 Jahren wurde John Ruskin geboren 

Sozialreformer mit Sinn für Romantik

Porträtaufnahme des Schriftstellers John Ruskin (um 1890, Elliott & Fry)
Porträtaufnahme des Schriftstellers John Ruskin (um 1890, Elliott & Fry) © picture alliance/dpa/Foto: akg-images
Von Mathias Greffrath · 08.02.2019
In seinen Essays dachte der Kunsthistoriker und Sozialreformer John Ruskin Natur, Gesellschaft und Ökonomie zusammen. Damit inspirierte er die soziale Bewegung und das englische Kunsthandwerk – und war damit für viele wichtiger als Karl Marx.
"Ich habe nicht über Wolken und Blumen geschrieben, weil ich sie für mich selbst liebte, sondern weil die ganze Energie meiner Mitmenschen auf das Ziel gerichtet ist, die Himmel zu verschmutzen und die Felder zu verwüsten. Und ich habe nicht über Bilder geschrieben, weil ich Bilder nun einmal liebte, sondern weil die Straßen von London über und über mit Plakaten und Karikaturen bedeckt waren, und zu jeder Seele, die mit sehenden Augen sie durchwanderte, nur von Greueln und Entstellungen sprachen."
So beschreibt der britische Kunsthistoriker und Sozialphilosoph John Ruskin, geboren am 8. Februar 1819, sein Lebenswerk, in dem Kunst und Naturwissenschaft, Ästhetik und Politik einander durchdringen. Schon früh hatte das Kind einer durch Weinimport reich gewordenen, ebenso kunstbesessenen wie religiösen Londoner Familie, mit seinen Eltern auf langen Reisen die Berge der Schweizer Alpen lieben gelernt und in den Städten Italiens die großen Maler studiert.
Mit 23 Jahren veröffentlichte er den ersten Band eines großen Werkes über die moderne Malerei seiner Zeit, tief beeindruckt von den Bildern William Turners; und wie für Turner ist Kunst für Ruskin eine der Wissenschaft gleichrangige Art, die Welt zu erkunden.
"Die Wissenschaft studiert die Beziehungen der Dinge untereinander, die Kunst, die angewandte Wissenschaft der Erscheinungen, studiert allein ihre Beziehung zum Menschen."
Ruskins Kunstkritik ist eine Schule des Sehens, die den Blick schärft – auch den auf die Verluste, die mit dem Fortschritt einhergehen.
"Wie ein Stück Zucker im Tee, so schnell schmilzt Venedig dahin."

Ästhetik, eine politische Wissenschaft

In seinem Großen Werk über die "Steine von Venedig" dokumentiert Ruskin in tausenden von Zeichnungen die Schönheit der vom beginnenden Industrialismus beschädigten Stadt, beklagt eine Moderne, in der Kunst und Architektur nicht mehr in Religion und Gemeinschaft eingebunden sind. Als Professor für Ästhetik in Oxford lehrt er seine Studenten nicht nur das Zeichnen, sondern den Blick auf die Zusammenhänge von Kunst und Gesellschaft, lässt sie in Elendsvierteln Straßen bauen und Blumenbeete ausheben, um den Sinn für Schönheit dorthin zu tragen, wo die Armut ihn nicht aufkommen lässt.
Ästhetik ist für Ruskin eine politische Wissenschaft. Er schreibt einen monatlichen "Brief an die Arbeiter und Handwerker Englands", gründet eine kommunitaristische Landgemeinschaft. Und sein wichtigstes Buch, so sagt er, sei eine Kritik der herrschenden Nationalökonomie.


"Die echte Wissenschaft der Nationalökonomie, die sich von der Bastardwissenschaft wie Medizin von der Quacksalberei, oder wie Astronomie von der Astrologie unterscheidet, ist diejenige, die die Nationen lehrt, nach den zum Leben führenden Dingen zu trachten und an ihnen zu arbeiten; dagegen die zum Verderben führenden Dinge zu verschmähen und zu vernichten."
John Ruskin
Undatierte Aufnahme des Kunsthistorikers und Sozialreformers John Ruskin. © imago/United Archives International
Einer wirklichen "Wissenschaft vom Reichtum" müsse es um die Bewahrung der Naturschönheit und um die Herstellung einer Gesellschaft gehen, in der Macht und Genuss gleich verteilt sind – kurz: um öffentliches Glück.
"Die Grundlagen der Gesellschaft sind erschüttert, nicht weil die Massen zu wenig Brot, sondern weil sie keine Freude an der Arbeit haben, mit der sie ihr Brot verdienen."

Verzweiflung über die Hässlichkeit der Städte

Einige Jahrzehnte lang ist John Ruskins Einfluss enorm. Seine Bücher und Vorträge inspirieren die englische Kunsthandwerks-Bewegung, die sozialistische Gedanken mit der Bewahrung handwerklicher Techniken und Tugenden verbindet. Er beeinflusst Architekten wie Le Corbusier, die Kunsthandwerker des Jugendstils und des Bauhauses.
Aber der Aufstieg des Maschinenzeitalters ist mit gutem Handwerk und ästhetischer Erziehung nicht zu verhindern, Ruskins spätes Werk ist durchzogen von Verzweiflung über die Hässlichkeit der Städte, die Verdunklung des Himmels durch die Schornsteine der Industrie, die Zerstörung seiner geliebten Alpen durch den Kommerz.
"Der Einfall der Fremden in die Schweiz wird notwendig jedes Jahr größer. Das Tal von Chamonix wird in eine Art Vergnügungspark verwandelt und ich ahne, dass binnen weniger Jahre Luzern aus einer Reihe symmetrischer Hotelbauten entlang der Seefront bestehen wird."
John Ruskin – ein Romantiker, ein Fall für besserverdienende Feinsinnige? Seine Schriften, 35 Bände geschliffener, scharfer und sinnlicher Prosa, werden mit jeder neuen Welle der Weltverhunzung brauchbarer – als Schule des richtigen Sehens und des guten Lebens.
"Dass wir hundert Meilen in der Stunde zurücklegen, tausend Ellen Stoff in der Minute fabrizieren, wird uns nicht das geringste stärker, glücklicher oder weiser machen. Es gab immer mehr in der Welt, als Menschen sehen konnten, gingen sie auch noch so langsam. Bei schnellem Gehen werden sie es nicht besser sehen."
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