Vor 100 Jahren

In den Leuna-Werken wird erstmals Ammoniak hergestellt

Blick auf das Hauptgebäude der ehemaligen Leuna Werke am 01.09.2012.
Blick auf das Hauptgebäude der ehemaligen Leuna Werke. © picture alliance / Matthias Bein
Von Bert Oliver Manig · 27.04.2017
Das Chemiewerk in Leuna verdankt seine Entstehung dem enormen Munitionsbedarf im Ersten Weltkrieg. Die synthetische Produktion von Ammoniak war eine epochale Neuerung der Chemieindustrie - und zugleich eine der verheerendsten technischen Innovationen der Geschichte. Heute vor 100 Jahren begann die Produktion.
Es war ein Kraftakt ohne Vorbild: In nur elf Monaten verwandelte die BASF das beschauliche Dorf Leuna bei Merseburg in das modernste Chemiewerk der Welt. In weniger als einem Jahr Bauzeit waren widerstrebende Landwirte enteignet, eigene Braunkohle- und Wasserwerke in Betrieb genommen und die neue chemische Produktionsstätte an das Eisenbahnnetz angeschlossen worden.
Als am 27. April 1917 in Leuna der erste Ofen zur Synthese von Ammoniak aus Stickstoff und Wasserstoff in Betrieb genommen wurde, herrschte Festtagsstimmung. Der erste Waggon mit Ammoniak, der das Werk am nächsten Morgen verließ, war mit Girlanden aus Tannennadeln geschmückt - jemand, dem die Lust zu frivolen Sprüchen auch nach drei Jahren Massensterben in den Schützengräben des Ersten Weltkriegs noch nicht vergangen war, hatte mit Kreide "FRANZOSENTOD" auf den Waggon geschrieben.

Basis für Sprengstoffe

Ammoniak, der in Leuna außerhalb der Reichweite französischer Fliegerangriffe in großen Mengen produziert werden konnte, war für die weitere Kriegsführung unverzichtbar. Denn mit einem von der BASF patentierten Verfahren konnte Ammoniak in fast unbegrenzter Menge zu Salpetersäure, dem Grundstoff für Sprengstoffe, oxidiert werden. Damit war das Deutsche Reich unabhängig geworden von Salpeterimporten aus Chile, von denen es durch die britische Seeblockade abgeschnitten war. Die Munitionsversorgung des Heeres war gesichert.
Selbst beim Kriegsgegner war die Bewunderung für die Leistung der deutschen Chemieindustrie groß. Sir William Pearce erklärte 1917 im britischen Unterhaus:
"Es ist wirklich eine wunderbare Errungenschaft. Ich würde sogar von einer der größten Leistungen des deutschen Geistes während des Krieges sprechen. Deutschland hat der Welt einen neuen Fortschritt gezeigt, der den Chilesalpeter in den Hintergrund drängen wird."

Mehr Tote als durch die Entdeckung der Kernspaltung

Zunächst bedeutete dieser Fortschritt jedoch eine Verlängerung des Massensterbens in den Schützengräben: Als das deutsche Heer anderthalb Jahre nach dem Produktionsbeginn in Leuna die Waffen streckte, geschah dies nicht aus Mangel an Munition, sondern aus Mangel an Soldaten. Und betrachtet man die Kriege des 20. Jahrhunderts insgesamt, so forderte die wissenschaftliche Errungenschaft der Ammoniaksynthese weit mehr Menschenleben als die Entdeckung der Kernspaltung von Uran.
Der damalige Forschungsleiter der BASF, Alwin Mittasch, schrieb am Ende seines Lebens:
"Seltsam gemischte Empfindungen sind es, die mich beim Rückblick auf die vergangenen Jahrzehnte bewegen: freudiger Stolz darüber, dass mir eine entscheidende Mitarbeit an einem so großen Werk vergönnt war, neben Gefühlen des Schmerzes, dass die junge Stickstoffindustrie so bald in den Dienst kriegerischer Zwecke gestellt werden musste … Hätte im Herbst 1914 die Erfindung einer Gewinnung von Salpetersäure aus Ammoniak nicht im Schubfach verfügungsbereit gelegen - wie anders wäre dann die Weltgeschichte verlaufen?"

Produktion von Dünger statt Sprengstoff

Nach der deutschen Kriegsniederlage drohte das Ende des Chemiestandorts Leuna, doch es gelang dem BASF-Vorstandsvorsitzenden Carl Bosch bei den Friedensverhandlungen in Versailles, die zwangsweise Schließung des Werks abzuwenden – die BASF stellte im Gegenzug den Franzosen ihr Know-how für ein Ammoniakwerk bei Toulouse zur Verfügung. Der in den 20er-Jahren in Leuna hergestellte Ammoniak diente nun nicht mehr der Munitionsherstellung, sondern der Produktion von Dünger für die Landwirtschaft und war zeitweise der größte Gewinnbringer der Chemiebranche. Erst in der Weltwirtschaftskrise gingen Rüstung und Chemieindustrie in Leuna wieder eine unheilvolle Verbindung ein – Adolf Hitler sprach 1933 eine Abnahmegarantie für dort produziertes synthetisches Benzin aus, das unter marktwirtschaftlichen Bedingungen nicht konkurrenzfähig war.

Kohl bekennt sich 1991 zum Standort Leuna

Trotz Zerstörungen und Demontagen blieb Leuna auch nach dem Zweiten Weltkrieg ein Produktionsstandort im sogenannten mitteldeutschen Chemiedreieck. Die 1917 errichteten Anlagen wurden teilweise noch bis zum Zusammenbruch der DDR betrieben. Eine Stilllegung war nach 1989 unvermeidlich, doch Bundeskanzler Helmut Kohl bekannte sich 1991 zum Standort Leuna:
"Und deswegen bin ich hier, um zu sagen: Ich werde alles tun, dass dieses Chemiedreieck erhalten bleibt, weiter ausgebaut wird."
Bald darauf begann in Leuna der französische Konzern Elf Aquitaine mit dem Bau einer hochmodernen Erdölraffinerie, die EU subventionierte die Rettung des Chemiestandorts mit etwa anderthalb Milliarden D-Mark. Längst ist nicht mehr das Militär, sondern der ostdeutsche Autofahrer der größte Abnehmer von Produkten aus Leuna.
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