Voodoo ist keine Hexerei

Von Frank Kaspar · 07.01.2012
Bei Voodoo denken Mitteleuropäer an Puppen, in die mit Nadeln gestochen wird. In dem afrikanischen Land Benin aber ist Voodoo aber ein wichtiger Teil des spirituellen Erbes - und in der Heilkunst, alltäglichen Ritualen und der Weltsicht vieler Menschen noch höchst lebendig.
"Gris-gris" heißt Talisman. Auf seinem gleichnamigen Debütalbum von 1968 verbindet "Mac" John Rebennack alias "Dr. John" aus New Orleans schwarze Musik mit schwarzer Magie, um den Geist des Voodoo zu beschwören. Ludovic Dakossi von der Botschaft der Republik Benin:

"Voodoo bedeutet "Geist". Das ist der Ausdruck der afrikanischen Spiritualität."

Für Dr. John ist Voodoo der Spirit der afrikanischen Sklaven. Der Mann mit dem "Gris-gris" tritt als fahrender Wunderdoktor und Schamane auf, der die Zauberkraft uralter Rituale kennt. Dakossi:

"Und je mehr man mit dieser Kraft kommuniziert, desto besser ist man geschützt, desto erfolgreicher kann man sein Leben führen."

"Zombie" ist ein kreolisches Wort für "Sklave". Was jeder über Voodoo zu wissen glaubt, geht zum größten Teil auf die Legenden jener aus Afrika verschleppten Zwangsarbeiter zurück, die in der Karibik, in Lateinamerika oder im Süden der USA wie Untote in Plantagen schuften mussten und bei ihren alten Göttern Schutz suchten. Das amerikanische Kino machte daraus seit den dreißiger und vierziger Jahren Horror-Geschichten wie "White Zombie" oder "I Walked With A Zombie". Von diesen bleibt allerdings nicht viel übrig, wenn man sich den Ursprüngen des Voodoo zuwendet, erklärt Ludovic Dakossi:

"Voodoo wird meistens als eine Kultur, die einem Böses tut, dargestellt - mit Puppen, schwarzen Puppen, mit Nadeln und so weiter und so fort. ... Als Beniner bin ich einer anderen Meinung. "Voodoo", das ist ein Wort aus meiner Muttersprache, das ist in unserer Tradition die Art und Weise, wie wir mit der Natur kommunizieren, mit der übernatürlichen Kraft der Welt."

Benin gilt als "Wiege des Voodoo". Der nationale Feiertag der traditionellen Religionen am 10. Januar zieht Jahr für Jahr Gäste aus aller Welt an, die den "wahren" Voodoo kennen lernen wollen. Im Alltag seines Heimatlandes spielt der alte Glaube nach wie vor eine große Rolle, sagt Dakossi.

"Für mich als jemand, der christlich erzogen ist, ist Voodoo nicht direkt im Zentrum meines Lebens. Aber für diejenigen, die Voodooci sind ..., ihr ganzes Leben ist im Geist des Voodoo. Das ist für viele Menschen in Benin so. Wenn jemand krank ist, ist sein erster Reflex, an einen seiner Götter sich zu wenden, um die Heilung zu bitten, genauso, wenn jemand eine wichtige Prüfung in der Schule bestehen will, dann kann er sich an einen bestimmten Gott wenden, um diese Prüfung zu bestehen."

Die Götter und Geister des Voodoo sind den Menschen in Benin näher als der christliche Gott, erklärt die Sekten- und Weltanschauungsbeauftragte der Nordelbischen Kirche in Hamburg, Gabriele Lademann-Priemer, die seit den siebziger Jahren über afrikanische Kulte forscht.

"Waldgeister, die Heilkräuter lehren, dann gibt es die Meeresgötter, die neue Gottheit Mami Wata, die für alles, was mit Wasser zu tun hat, zuständig ist. Der Eisengott gehört aber auch noch dazu, der ist für die Schmiede und für die Autowerkstätten und infolgedessen für alle Maschinen - also heutzutage auch für die Waschmaschinen - zuständig. Ich meine, ein bisschen witzig ist dann, wenn ein Priester, während er eine Zeremonie hat, mit dem Handy telefoniert. Die Vorstellung, ein Pastor telefoniert während der Predigt mal kurz über Handy, ist ein Unding - während das da witzig ist."

Die Götter müssen erreichbar sein, bestätigt Henning Christoph. Der Ethnologe, Fotoreporter und Filmemacher hat für sein Museum "Soul of Africa" in Essen zahlreiche Voodoo-Kultgegenstände zusammengetragen. Darunter auch sehr zeitgemäße mit integriertem Telefon-Anschluss. Henning Christoph zeigt eine Fetisch-Figur aus seiner Sammlung, einen so genannten "Bocio".

"Ich hab hier zum Beispiel einen Telefon-Bocio mitgebracht. Und die werden benützt, wenn Sie ein ganz eiliges Anliegen haben, wo Sie mit den Göttern reden möchten. An diesem Bocio, da hängen fünf Trillerpfeifen, in die man erst mal rein pustet, um die Aufmerksamkeit der Götter zu bekommen, und dann hinten an dem Bocio hängt ein Mobiltelefon, und da sprechen Sie Ihre Nachricht rein an die Götter. Und dann gibt es Schlösser, die noch dran hängen, wo Sie Ihren Wunsch auch noch einschließen können."

Rituelle Gesänge aus einer Zeremonie der Meeresgöttin Mami Wata, die Henning Christoph in Benin aufgenommen hat. Heilung und Seelsorge sind die wichtigsten Aufgaben der Voodoo-Rituale. Ihre Wirkung beruht auf dem in der Gemeinschaft tief verwurzelten Glauben und auf ganz bestimmten körperlichen Praktiken. Ludovic Dakossi:

"Sie wissen, in Voodoo sind zwei wichtige Dinge: der Tanz und die Trance."

Und Henning Christoph ergänzt:

"Trance ist der Zustand, wo die Seele den Körper verlässt, und ein Gott steigt in die Person ein, der Mensch wird zu Gott, auf eine bestimmte Zeit, ein Höchstgefühl für einen Voodooci. Der Priester ist dann eigentlich nur ein Regisseur. Diejenigen, die in Trance sind, das sind Götter, und die sind diejenigen, die heilen. Wenn Sie jetzt gläubig sind, und da sind auf einmal zehn Götter da, die die Heilung übernommen haben, hat das natürlich eine unglaubliche psychische Wirkung auf die Kranken - wenn sie glauben."

Die Voodoo-Priester sind Geistliche, Ärzte und Psychologen in einer Person. Als Gelehrte ohne Schrift vollbringen sie erstaunliche Gedächtnisleistungen. Das mündlich überlieferte "Fa-Orakel", aus dem sie ihr Wissen schöpfen, gehört zu den komplexesten Weissagungssystemen der Welt. Die Ausbildung der Priester kann mehrere Jahrzehnte in Anspruch nehmen - und sie geschieht nicht immer freiwillig, wie der Ethnologe Henning Christoph betont:

"Viele waren selbst mal sehr krank und sind geheilt worden, was oft bei Frauen passiert, dass sie als junge Mädchen psychische Probleme hatten und werden zu einem Priester oder Priesterin gebracht und werden dort geheilt, und dann können die Eltern nicht bezahlen. Und dann sagt man, dann muss sie bei dem Voodoo-Priester bleiben, in einem Kloster bleiben, die Eltern können sie nie auslösen, dann sind sie vielleicht elf Jahre in diesem Kloster und lernen all die Geheimnisse, und wenn sie dann irgendwann so weit sind, dass sie raus dürfen, sind sie auch fertige Priester."

Voodoo ist eine Macht aus uralten Zeiten, die es durchaus versteht, sich mit der Moderne zu arrangieren; eine Naturreligion, die von vielen Beninern umstandslos mit dem christlichen Glauben kombiniert wird. Auch in der Familie von Ludovic Dakossi, der selbst bekennender Katholik ist, wird eine Voodoo-Tradition gepflegt, die eine Brücke zu den eigenen Ahnen schlägt.

"Wir haben die "Asets" in einem kleinen Gebäude bei uns. Die sehen wie Statuen aus, die die Verstorbenen der Familie verkörpern. Mein Vater starb 1999. Er hat heute in dieser kleinen Ecke der Familie sein Aset. Man versucht, seinen Geist, seine Seele in der Familie präsent zu machen und versucht durch diesen Kontakt, durch diese Präsenz Schutz, Hilfe zu bitten."

Die "Asets", die für eine konkrete Person stehen, erinnern entfernt an das Klischee von der Voodoo-Puppe. Aber Puppen, die man mit Nadeln durchsticht, damit es jemand anderem weh tut, gibt es wirklich nur im Kino oder vom Esoterik-Versand, sagt Gabriele Lademann-Priemer. Wenn man wissen will, was dahinter steckt, liegen die Dinge komplizierter.

"Man kann zum Beispiel ein Gelübde ablegen, einen Nagel einschlagen, und wenn man das Gelübde erfüllt hat, den Nagel wieder raus ziehen. Dann gibt es die Vorstellung, dass diese Nagelpuppen überhaupt auf den Heiligen Sebastian zurückgehen, der ja bekanntlich von Pfeilen getötet wurde als christlicher Märtyrer. Und dann gibt es die Voodoo-Puppe als Kinderspielzeug, wo die Sklaven-Kinder sozusagen Spielzeuge hergestellt haben, damit die Sklaven-Inhaber nicht merken, dass sich also hinter diesen Puppen in Wirklichkeit Götter befunden haben."

Götter in Kinderhänden, Schutzgeister im Kleinformat, die man in die Tasche stecken und immer bei sich tragen kann wie ein Amulett, einen Talisman - ein "Gris-gris". Man braucht nicht nach Afrika oder über den Atlantik zu fahren, um so etwas zu entdecken. Die Begegnung mit Voodoo schärft den Blick für das eigene Verhältnis zum Magischen. Gabriele Lademann-Priemer:

""Jeder hat da irgendwas. Warum stellst du eigentlich Blumen ans Bild der Oma? Mit welchem Gegenstand gehst du auf die Reise? Früher war es - da hatte ich mal ein kleines Kreuz mit, andere haben irgend eine Senfkorn-Bibel mit, eine kleine Parfümflasche, also irgend so ein Gegenstand, der irgendwie magisch aufgeladen ist, wo ganz im untersten Hintergrund des Gehirns, was wir uns nicht eingestehen, die Hoffnung ist: das schützt auch vor Unglück."
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