Von Zahlenmenschen und Gefühlsspezialisten

Von Cora Stephan |
Der Fall Sarrazin ist eine historische Wegmarke für Deutschland - er bewegt in diesen Tagen wie kein anderes Thema. Es wird heftig über die Thesen seines Buches gestritten, noch heftiger über seine Äußerungen im Verlaufe dieser Debatte.
Nein, Herr Wang möchte nicht nach Deutschland einwandern. Eigentlich mag er das Land. Und das Geld stimmt auch. Aber er hat unsere Kultur ein wenig näher studiert. Seither möchte er lieber nicht. Herr Wang ist Naturwissenschaftler. Herr Wang hat mitbekommen, wie man in Deutschland Debatten zu führen pflegt.

Mit viel Gefühl. Und mit ganz wenig Verstand. Und gänzlich ohne Respekt vor Zahlen und Tatsachen. Das aber ist schlecht für die Ingenieurskunst. "Was soll ich denn machen", sagt Herr Wang, "wenn ein Mitarbeiter, der meine Zahlen bezweifelt, sie nicht etwa überprüft, sondern sich von ihnen verletzt und beleidigt fühlt?" Deutschland, einst Hort der Ingenieurskunst und noch immer eine starke Wirtschaftsmacht, Deutschland, sagt Herr Wang, ist im Begriff, sich selbst abzuschaffen. Und da möchte er nicht dabei sein.

Nun, wer in den letzten Tagen ferngesehen hat, wird Herrn Wang nicht widersprechen können. Er hat ein Land erlebt, in dem der Ökonom Thilo Sarrazin von der Grünenpolitikerin Renate Künast als "menschlich schäbig" und "gefühlskalt" beschimpft wurde, weil er sich auf Zahlen und Statistiken bezieht. In dem eine deutsch-türkische Landesministerin aus Niedersachsen, die der Presse "kultursensible Sprache" gegenüber türkischen Migranten verordnen wollte, stolz verkündet, "sie brauche keine Statistiken und Analysen", da sie die "Migranten ja kenne".

Ob bei Beckmann, ob bei Plasberg: Es triumphierten die Menschlichkeit und das Leben über das statistische Teufelszeug, das "Menschen auf Zahlen" reduziere. Selbst die Bundeskanzlerin, von Haus aus Naturwissenschaftlerin, übernahm den neuen Gefühlssprech und ließ uns an ihren Empfindungen teilhaben. Alles andere hieße ja wohl auch, über eigene Versäumnisse zu reden.

Denn Thilo Sarrazin konstatiert, was schlechterdings nicht zu leugnen ist: Eine Minderheit hierzulande will sich nicht integrieren, da sie diese Gesellschaft, ihre Kultur und ihre autochthone Bevölkerung verachtet – deren Vertreter wiederum trauen sich nicht, den nötigen Respekt auch einzufordern. Das ist und bleibt der Hauptpunkt der Debatte – die nun im Namen der Menschlichkeit und der Gefühle zusammen mit Thilo Sarrazin erlegt und erledigt werden soll.

Es ist an Schäbigkeit nicht zu überbieten, was uns hier als Debattenkultur, als Weltoffenheit, als Menschlichkeit und buntes Multikulti vorgeführt wird. Die Vertreter der deutsch-türkischen Community tun beleidigt und leugnen das Problem.

Politiker setzen auf das dort vermutete Wählerpotenzial und leugnen ihrerseits, dass das hierzulande übliche "Fördern statt Fordern" längst an seine Grenzen gestoßen ist. Und niemand vertritt die Interessen der eingeborenen Bevölkerung, die ja womöglich Gründe dafür hat, dass sie sich die Objekte ihrer kulturellen Sensibilität von niemandem vorschreiben lassen will.

Und Sarrazin? Ist der Sündenbock, dem blanke Menschenverachtung und blanker Hass entgegenschlagen und der dennoch und auf fast rührende Weise immer und immer wieder versucht, doch noch ein Argument loszuwerden.

Nun, Umfragewerte und Internetkommentare lassen erkennen, dass das Volk mit den politischen Eliten auch hier nicht übereinstimmt. Beide großen Parteien haben die Gefolgschaft ihrer Wähler eingebüßt. Der SPD droht ein Aufstand der Basis, wenn sie Sarrazin ausschließt. Und der Kanzlerin wird man es übel vermerken, dass sie einen wichtigen Amtsträger, die Meinungsfreiheit und die ihr von Amtswegen angemessene Distanz geopfert hat, um der SPD das Leben noch ein wenig schwerer zu machen. Und alle gemeinsam haben sich mit ihrer menschelnd aufgemotzten Verlogenheit bis auf die Knochen blamiert. Eine große Mehrheit der Deutschen sieht Thilo Sarrazin nun erst recht als den aufrechten, integren, ehrlichen, standhaften Mann, dem es an jener Aalglätte fehlt, mit der die anderen sich unangreifbar gemacht haben.

Der Fall Sarrazin ist für dieses Land eine historische Wegmarke. Und das ist in der Tat kein gutes Zeichen.

Dr. Cora Stephan, Publizistin und Buchautorin, Jahrgang 1951, ist promovierte Politikwissenschaftlerin. Von 1976 bis 1984 war sie Lehrbeauftragte an der Johann Wolfgang von Goethe Universität in Frankfurt und Kulturredakteurin beim Hessischen Rundfunk. Von 1985 bis 1987 arbeitete sie im Bonner Büro des "Spiegel". Zuletzt veröffentlichte sie "Der Betroffenheitskult. Eine politische Sittengeschichte'", "Die neue Etikette" und '"Das Handwerk des Krieges".
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