Von zärtlich bis barbarisch

16.11.2011
Bescheiden war Walter Benjamin nicht. Sein Ziel war es, der beste deutsche Literaturkritiker zu werden. Der nun im Rahmen der "Kritischen Gesamtausgabe Werke und Nachlaß" erschienene Band mit Benjamins "Kritiken und Rezensionen" zeigt, wie der Autor diesen Plan umsetzen wollte.
Die Frankfurter Universität forderte Walter Benjamin 1925 auf, seine Arbeit über den "Ursprung des deutschen Trauerspiels" zurückzuziehen. Denn die Aussichten, dass er sich mit dieser Schrift habilitieren könne, wurden als äußerst gering eingeschätzt. Benjamin (1892-1940) kam dieser Aufforderung nach: Sie bedeutete das Scheitern seiner akademischen Laufbahn. Danach versuchte er, sich einen Namen als freier Schriftsteller auf dem literarischen Markt zu machen. Unbescheiden war er dabei nicht. Sein Ziel war es, wie er seinem Freund Gershom Scholem schrieb, der beste deutsche Kritiker zu werden.

Der nun im Rahmen der "Kritischen Gesamtausgabe Werke und Nachlaß" erschienene Band mit Benjamins "Kritiken und Rezensionen" zeigt, wie der Autor diesen Plan umsetzen wollte. In "Die Technik des Kritikers in dreizehn Thesen" aus der "Einbahnstraße" heißt es: "Echte Polemik nimmt ein Buch sich so liebevoll vor, wie ein Kannibale sich einen Säugling zurüstet." Geradezu genüsslich verreißt Benjamin Fritz von Unruhs Buch "Flügel der Nike". Es handelt sich – wie Benjamin ausführt – um ein Beispiel "barbarischer Polemik und des Verschlingens eines Autors bis auf Haut und Knochen". Geradezu zärtlich geht der Kritiker Benjamin hingegen mit Franz Hessels Buch "Spazieren in Berlin" um. Dem Freund, der ihm in Paris gezeigt hat, wie man flanierend Zugang zu den geheimsten Winkeln einer Stadt findet, bescheinigt er, dass das Buch geschrieben worden ist, als würde man im Schlendern "Memorieren".
Viele diese Kritiken sind bekannt. Neu hinzugekommen ist eine nun erstmals veröffentlichte Besprechung von Robert Faesis Buch "Heimat und Genius". Legt man allerdings die Kritiken aus der alten Ausgabe "Gesammelter Schriften" neben den neuen Band 13 der "Kritiken und Rezensionen", dann fällt auf, dass dieser erheblich umfangreicher ausgefallen ist: Er besteht aus zwei Teilbänden mit jeweils rund tausend Seiten.

Das liegt zum einen an den ausführlichen Kommentaren. Zum anderen hat der Herausgeber Heinrich Kaulen jene Schätze aus dem Benjamin-Archiv geborgen, die zum Umfeld der Kritiken und Rezensionen gehören und die bislang unberücksichtigt geblieben sind. Zu lesen ist nun, was sich Benjamin im Zusammenhang mit den einzelnen literaturkritischen Arbeiten notiert hat. Es ist deshalb zu empfehlen, nicht nur Benjamins fertige Endprodukte zu lesen, sondern auch die nicht aufgenommenen und durchgestrichenen Textpassagen. Besonders jene Notizen, die zu Benjamins Lebzeiten und auch danach nicht veröffentlicht worden sind, erweisen sich als Entdeckungen. Kaulen hat aus Benjamins Textfundus die Gedankenblitze geborgen, die nur für einen Augenblick aufleuchteten. Er hat schönste Formulierungen wie diese gefunden: "Kritiker kann man danach unterscheiden, ob sie ins Haus des Dichters herein oder daraus von innen herausschauen".

In der nächsten Zeit wird Stille in die Studierstuben der mit Benjamins Werk befassten Geisteswissenschaftler einziehen. Lesend werden sie sich über dieses Buch und die bereits erschienenen Werke der auf 21 Bände geplanten Neuausgabe beugen. Die Ausgabe "Werke und Nachlaß" macht nachdrücklich deutlich: Wer immer noch glaubt, er würde Walter Benjamin bereits kennen, dem ist nicht zu glauben.

Besprochen von Michael Opitz

Walter Benjamin: Kritiken und Rezensionen
Band 13/1 und 13/2 der Kritischen Gesamtausgabe Werke und Nachlaß
Hrsg. v. Heinrich Kaulen
Suhrkamp Verlag, Berlin 2011
918 und 1024 Seiten, zusammen 98,80 Euro