Von wilden Orgien und Karneval

Ein ukrainischer Künstler wird nach Venedig entführt, um dort an einem Symposion über den "postkarnevalistischen Irrsinn der Welt" teilzunehmen. So skurril wie das klingt, ist der gesamte Roman von Juri Andruchowytsch. Nur kommt bei allem Wahnsinn die Entwicklung der Figuren zu kurz.
Der ukrainische Schriftsteller Juri Andruchowytsch liebt Kalauer, Zitate, Collagen, Persiflagen und Dekonstruktionen aller Art, die ihrerseits noch einmal gespiegelt werden, bis sich alles in einem reißenden Strudel dreht. Sein Werk ist dem Karneval verpflichtet, von dem sein 1999 im Original erschienener und erst jetzt übersetzter Roman "Perversion" auch erzählt. Dessen Hauptfigur Stanislaw Perfecki, ein ukrainischer Untergrundkünstler, wird in München von einem seltsamen Paar nach Venedig entführt, um dort an dem internationalen Symposion "Postkarnevalistischer Irrsinn der Welt: Was dräut am Horizont" teilzunehmen.

Er verliebt sich in seine schöne Entführerin, die ihm verfällt und zugleich im Auftrag einer unbekannten Organisation bespitzelt. Die Konferenz über den postkarnevalistischen Irrsinn läuft als ebensolcher ab, bevor sie mit einer Mensch und Tier, Himmel und Hölle verschmelzenden Orgie schließt, und am Ende des Buches ist Perfecki tot, vielleicht auch nur spurlos verschwunden. Genaueres weiß der Herausgeber namens Juri Andruchowytsch nicht. Er hat Perfeckis Nachlass erhalten und vollzieht dessen letzte Tage nach, indem er Perfeckis Aufzeichnungen, die der ihn Bespitzelnden sowie Abschriften von Tonaufnahmen und Zusammenfassungen von Videoaufzeichnungen kompiliert.

Den Inhalt des Romans genauer zu erzählen, ist kaum möglich. Es wäre auch nicht hilfreich. Denn Andruchowytsch ist ein hochbegabter Spiegelfechter, der Kabinettstückchen aneinanderreiht und sofort zu neuen Taten weiterzieht. Mit großer Leichtigkeit mischt er E- und U-Kultur, Fach- und Gossensprache, was die Übersetzerin Sabine Stöhr zu wunderbaren Kollisionen animiert hat. Und natürlich sind Anspielungen auf Kunstwerke aller Art, vor allem auf Michail Bulgakows "Meister und Margarita", Legion. Auch Perfecki wird verballhornt zu Parfumski, Preferanski oder Orpheusky. Unter allen Karnevalsmasken aber verkörpert er das dionysische Prinzip.

Andruchowytsch, 1960 in Iwano-Frankiwsk geboren, setzt den anarchischen Witz der von ihm gegründeten Gruppe Bu-Ba-Bu (Burleske-Balagan (Jahrmarktsbude)-Buffonade) fort, die bis Anfang der 90er-Jahre bei jedem Auftritt in der Ukraine Hunderte von Zuschauern unterhielten. Doch die karnevalistische Feier bleibt trotz des Tempos eine selbstreferenzielle Angelegenheit: Die abscheulichste Perversion dieses Romanfüllhorns ist die Kreuzung unterschiedlichster Textsorten. Nicht nur Perfecki ist eine papierene Gestalt. Andruchowytsch hat so viel Mühe mit all den in die Luft geworfenen Jonglierbällen, dass darüber die Figuren zu kurz kommen. Der Roman ist über weite Strecken ein hochtouriger Mummenschanz.

Allerdings las sich der Roman vor zwölf Jahren sicher anders. Nur sind die geilen Hostessen, die den Tagungsteilnehmern zu karnevalistischen Hochgefühlen verhelfen, inzwischen in den Dienst deutscher Versicherungsangestellter im Budapester Gellert Bad getreten. Die Wirklichkeit hat einige der schrilleren Stellen von "Perversion" überflügelt.

Besprochen von Jörg Plath

Juri Andruchowytsch: Perversion
Roman. Aus dem Ukrainischen von Sabine Stöhr
Suhrkamp, Berlin 2011
333 Seiten, 22,90 Euro