Von Volks- und Piratenparteien

Von Stephan Speicher |
Wer sich in den 70er-Jahren für Politik interessierte, der bekam es regelmäßig mit der Parteienschere zu tun. Gerhard Löwenthal z. B. zeigte sie in seinem ZDF-Magazin gerne vor: Eine Grafik, in der die stetig wachsenden Stimmanteile von Union und SPD einmal als von unten steigende, einmal als von oben fallende Fläche eingezeichnet waren.
Immer näher kamen sich die zwei Grenzlinien, immer kleiner wurde der für die anderen Parteien verbleibende Rest. Eine Schere schloss sich, und allem, was nicht Volkspartei war, schien sie den Lebensfaden abzuschneiden. Das war das Jahrhundert der Masse als Grafik. Oder war es der endlich erreichte Weg in stabile demokratische Verhältnisse, wie Großbritannien und die USA sie kannten?

So geführt, schaute man auf das Ende der kleinen Parteien, die spezielle Interessen vertraten, so wie die FDP die Partei der Selbstständigen und Beamten war. Ein ehernes Gesetz schien sich da zu vollziehen.

Reichlich 30 Jahre später sieht das alles anders aus. Wollte man heute noch von einer Schere sprechen, sie schnitte schöne Stücke für die Kleinen aus den traditionellen Beständen der Großen heraus. Volkspartei zu sein, das heißt: Aus seinem Kern, dem christlich-konservativen oder dem sozialistischen, in die Mitte der Gesellschaft zu reichen, den Anspruch zu erheben, für das Ganze zu sprechen, für potenziell alle Bürger. Das wird offenbar immer schwieriger, zäher, mühsamer.

Wie viel munterer tummeln sich Grüne, FDP und Linkspartei in ihren Milieus! Und jetzt kommt noch die Piratenpartei hinzu. Große Chancen hat sie am 27. September wohl nicht, glauben die Demoskopen. Aber ihre Erfolge im benachbarten Ausland verschaffen ihr einen gewissen Respekt. Aus der Piratenpartei könnte noch was werden.

Mit ihrem Namen schreit sie schon heraus, wie ungeniert sie ist. Und ungeniert ist sie wirklich. Ist das ein Vorzug? Ja, denn sie proklamiert in dem Punkt, der ihr wichtig ist, eine klare Linie: Sie will das Internet frei halten von staatlichen Eingriffen, von Zensur und Ausspähung.

Einen Teil der Forderungen muss man aus tiefstem Herzen begrüßen, den Schutz vor staatlicher Schnüffelei. Anderes, der Angriff auf Urheberrechte und Patente oder doch der Zweifel daran, ist viel heikler. Aber das ist nicht der kitzlige Punkt. Der liegt vielmehr darin, dass die Piratenpartei eine Ein-Thema-Veranstaltung ist.

Es geht um die Freiheit im Netz, alles andere interessiert nicht. Wirtschafts- und Sozialpolitik, Steuer- und Haushaltsfragen, Auswärtiges und Sicherheit – das ist der Piratenpartei schnuppe. Auf Foren tauschen sich die Mitglieder dazu aus, man kann das auf der Homepage nachlesen. Aber da findet man durchweg Langweilereien.

Für solche Schwächen muss man nicht einmal umständlich den Beweis antreten. Die Piraten geben sie freimütig zu: "Zum heutigen Zeitpunkt", heißt es bei ihnen, "sind wir eine reine Themenpartei. Eine offizielle Position der Partei zu herkömmlichen politischen Themen gibt es nicht. Aber wir arbeiten daran."

Wer Pirat ist, hat nur ein Thema, die Freiheit des Internets. Anderes ist ihm gleich. Er ist nicht mehr Bürger unter Mitbürgern, der auch dort Anteil nimmt, wo er nicht persönlich betroffen ist. Der Pirat kennt nur eine Sache, die seine, das macht ihn so schneidig. Klug macht es ihn nicht. Dass die Politik, wie wir sie kennen, oft so schwergängig erscheint, das liegt ja nicht an der geborenen Umständlichkeit ihrer Vertreter, sondern an der inneren Verwicklung der Gegenstände.

Daran wollen die Piraten keinen Anteil nehmen. Ihre thematische Beschränkung ist die fröhliche Bereitschaft, unterkomplex zu bleiben. Die Piraten bleiben unter sich. Ihre Partei führt ein so schönes Logo, das P als geblähtes Segel. Und doch ist das Revier, in dem sie unterwegs ist, denkbar beschränkt. Im gegenwärtigen Zustand ist die Piratenpartei der Versuch, Seeräuberei und Kleingärtnertum zu verbinden. Nicht ausgeschlossen, dass dieser Versuch seine Freunde findet.


Stephan Speicher, Jahrgang 1955, studierte Rechtswissenschaften, Geschichte und Germanistik in Münster und Bonn. Nach einigen Jahren als Wissenschaftlicher Angestellter für Neuere Germanistik an der Universität Wuppertal wechselte er in den Journalismus. 1991/92 war er Redakteur des Berliner "Tagesspiegels", 1992 - 1996 der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung", 1996 – 2007 bei der "Berliner Zeitung". Seit 2008 arbeitet er für die "Süddeutsche Zeitung".