Von Vladimir Balzer

14.11.2009
Der Mauerfall vor 20 Jahren beherrscht die Debatten in den deutschen Feuilletons. "Ich erinnere mich des Überschwangs, der unermesslichen Selbstsicherheit, jetzt endlich an die Reihe zu kommen", schreibt Buchpreisträgerin Kathrin Schmidt.
"Es ist für einen Schriftsteller kein Vergnügen",

lasen wir am vergangenen Montag im Wochenmagazin DER SPIEGEL, "seine eigenen Texte auszulegen, Aufrufe zu unterschreiben oder auf Verlangen politische Stellungnahmen abzuliefern." Diesen Satz zitierte Matthias Matussek anlässlich des 80. Geburtstages von Hans Magnus Enzensberger. Ein Chamäleon diskutiert nicht über seine aktuelle Farbe.

Erst 20 Jahre ist es her, dass sich aufgrund einer misslungenen Kommunikation die Welt, wie wir sie bis dahin kannten, grundlegend änderte. Ein Regierungssprecher las etwas von einem Zettel ab, die Medien interpretierten den Wortlaut, und Tausende von Menschen überschritten eine Grenze, Millionen waren glücklich. Zum 20. Jahrestag des Mauerfalls gab es Erinnerungsaufsätze und Porträts schon weit vorher.

Am Montag, dem 9. November, erschien die Tageszeitung DIE WELT mit zwei Feuilleton-Seiten voller Erinnerungen. Die diesjährige Buchpreisträgerin Kathrin Schmidt hatte gerade eine neue Wohnung in Berlin-Hellersdorf bekommen. Kathrin Schmidt schrieb: "Ich erinnere mich des Überschwangs, der unermesslichen Selbstsicherheit, jetzt endlich an die Reihe zu kommen, meine Generation war um die 30, und die Gerontokraten zum Teufel zu jagen."

Im selben Artikel lasen wir auch: "Die heutigen Illusionen sind nicht gerade kleiner als unsere damaligen: Ich kann nicht mehr auf Wirtschaftswachstum setzen oder auf Vollbeschäftigung, ich halte das für Volksverdummung." Am Mittwoch war der Jubiläumstag nur noch Nachhall.

Sieglinde Geisel schrieb in der NEUEN ZÜRCHER ZEITUNG über die Feiern in Berlin und stellte fest: "Der 9. November war weder ein Sieg des Westens noch ein Volksaufstand, sondern ein systemimmanenter Zusammenbruch." Und noch etwas fiel der NZZ-Autorin auf: "Wegen der jubiläumsbedingten Straßensperrungen war in den letzten Tagen von West nach Ost kaum ein Durchkommen."

Auf der zweiten Feuilleton-Seite, die DIE WELT dem Mauerfall widmete, erinnerte sich der Schauspieler Michael Gwisdek an die Nacht vom 9. November. Er war am Brandenburger Tor, noch ohne Medienrummel. Und als er auf die Mauer zuging, auf der etliche Westberliner schon standen, wurde geklatscht. Nicht seinetwegen, wie er rasch merkte: Die Kampftruppen zogen sich zurück. Gwisdek schrieb: "Wann hatte ein DDR-Bürger schon mal das Erlebnis, dass sich die bewaffneten Organe, wie sie im Amtsdeutsch hießen, vor ihm zurückzogen?" Und noch etwas war Gwisdek der Mitteilung wert: "Ich habe immer Arbeit gehabt." Also vorher und nachher, meinte er damit.

"Die Beschäftigung mit den tatsächlichen Verhältnissen ist der erste Schritt zu ihrer Veränderung." Das lasen wir am Donnerstag in der BERLINER ZEITUNG. Franz Sommerfeld rekapitulierte die anhaltend diskutierte Sommerloch-Idee des Karlsruher Philosophen Peter Sloterdijk vom Staat, der den Gutverdienern nimmt, statt ihnen die Fürsorge für die Bedürftigen ins eigene Belieben zu geben, und die daraus erwachsene Papierflut.

In dieser Diskussion meldete sich auch Ulrich Greiner von der Wochenzeitung DIE ZEIT zu Wort. "Wir befinden uns in einem Prozess der Desolidarisierung und der Repolitisierung", schrieb Greiner und erinnerte an ein sehr altes Buch: "Dass Geben seliger sei als Nehmen, steht in der Bibel." In seinem Artikel setzte sich Greiner mit der Lage des ärmeren Teils der Bevölkerung auseinander und erinnerte an die alten Tugenden des bürgerlichen Gemeinwesens.

Wir lasen zum Thema "Bedürftige" in der ZEIT: "Sie wollen nicht bloß Geld, sondern auch Anerkennung. Stattdessen müssen sie auf den Wartebänken der Sozialämter die Erfahrung machen, dass sie lediglich ein Aktenvorgang sind." In der FRANKFURTER RUNDSCHAU wurde fast täglich ein Beitrag zur Sloterdijk-Diskussion abgedruckt. Am Mittwoch hängte sich Christian Schlüter besonders weit aus dem Fenster und rief auf Sloterdijk gemünzt: "Seit jeher sieht er sich als Opfer des akademischen Schweigekartells, das ihm seit jeher die Anerkennung verweigert. Und wo die Anerkennung fehlt, muss man doch wenigstens für etwas Aufmerksamkeit sorgen." Schlüter prägte auch den schönen Begriff "Voodoo-Economics", mit dem er die Vorschläge der wissenschaftlichen Wunderheiler charakterisierte. Er vermutete: "Gar allzu mächtig scheint der Wunsch, die Party möge immer so weiter gehen."

Was Christian Schlüter angriff, konnten wir am Donnerstag in der FRANKFURTER RUNDSCHAU lesen. Norbert Bolz forderte den Sozialstaat auf, "den Kapitalismus gegen die schlechten Kapitalisten zu verteidigen." Und wir fanden den erstaunlichen Satz: "Es kommt nicht von ungefähr, dass heute alle im Bundestag vertretenen Parteien sozialdemokratisch sind." Bolz meinte damit aber nur, dass es sich bei den Volksvertretern herumgesprochen hat, dass eine Sozialversicherung ganz nützlich für die Bürger sein kann. Und der Berliner Professor für Medienwissenschaft forderte die Politiker auf, sich auf ihre eigentliche Kernaufgabe zu besinnen: Die Politik. Bolz schrieb in der FR: "Der starke Staat ist gerade nicht der universale Problemlöser. Er darf gerade nicht die Gesamtverantwortung für die Gesellschaft übernehmen, denn damit würde er sich übernehmen."

Der vorerst letzte Beitrag dieser Debatte war in der Sonnabendausgabe zu lesen. Er endete mit der Feststellung: "Die Vorstellung einer reinen Privatrechts- und Zivilgesellschaft ist keine Vision, sondern ein Albtraum."

Friedrich Schillers 250. Geburtstag wurde in der vergangenen Woche ausgiebig gefeiert, unter anderem auch mit Beiträgen über die Wiedereröffnung des Marbacher Schiller-Museums. Aber wir wenden uns noch einmal zum anderen Jubilar der Woche, zum 80-jährigen Hans Magnus Enzensberger. Die BERLINER ZEITUNG druckte ein Gedicht aus seiner Feder: "Nichts gegen den Mikroprozessor, / aber wie stünden wir da / ohne das Wasser? / Was ist schon eine Jupitersonde / verglichen mit dem Gehirn einer Fliege?" So fängt das Gedicht an. Und so endet es: "Nie im Leben / liebe Nobelpreisträger, / gebt es nur zu, / hättet ihr so was erfunden."