Von Ulrike Timm

Der "Tagesspiegel" meint, es gebe viel zu viele Preise. Angesichts der beiden deutschen Nobelpreisträger muss sich die deutsche Forschung nicht verstecken, urteilt die "Frankfurter Allgemeine Zeitung". Außerdem: Die Feuilletons vertreten die Ansicht, dass der Literaturnobelpreis für Doris Lessing mindestens 20 Jahre zu spät kommt.
Viel zu viele Preise gibt es! moserte Rainer Moritz zum Wochenbeginn im TAGESSPIEGEL. Ein listiger Aufschrei in Tagen, in denen es Auszeichnungen regnete, aber eben nicht die allzu vielen Stadtschreiberpöstchen, Stipendien und Anerkennungen, die sich kommunale Kulturbeauftragte in stillen Stunden gerne ausdenken:

"Dormagener Federkiel, Irseer Pegasus, Friedrich-Gerstäcker-Preis, Limburg-Prosa-Preis oder Hans-Henning-Holm-Preis", "zählte Moritz gnadenlos auf, und vielleicht hält er auch den Deutschen Buchpreis nur für geringfügig größer und bedeutender? Der wurde – über die Nobelpreise ist es fast schon vergessen – an Julia Franck vergeben. Die Jury habe mit ihr nun nicht völlig danebengegriffen, aber so richtig Tolles habe ja auch nicht zur Auswahl gestanden, so der Tenor in den Feuilletons, und Dirk Knipphals stöhnt achselzuckend in der taz:

""Der Familienroman macht also wieder das Rennen."

Ulrich Greiner denkt in der ZEIT über die neue Autorengeneration nach:

"Wahrscheinlich hat es nie eine so große Zahl begabter und intelligenter junger Autoren gegeben wie heute … Wir haben in der deutschsprachigen Literatur, um es sportlich zu sagen, ein breites und starkes Mittelfeld, und das ist insofern eine gute Nachricht, als nur daraus Spitzenleistungen entstehen können", " lobt Greiner in der ZEIT, um dieses Lob dann gleich zu vergiften. Es entstünden mittlere Bücher von mittlerer Länge, die von mittleren, vertrauten Dingen in verständlicher Sprache berichteten, ordentliches Handwerk eben.

" "Sie können erzählen, und das ist nicht wenig. Aber es ist nicht genug. Sie machen selten Fehler. Das könnte ein Fehler sein", " so Ulrich Greiner in der ZEIT über die Generation der Mittdreißiger in der deutschen Literatur. Und damit zu den Nobelpreisen, und zuerst zu denen, die wohl hierzulande völlig überraschend kamen: Peter Grünberg erhält die Auszeichnung für Physik, Gerhard Ertl für Chemie. Nur ein Hauch? – "Oder weht sogar eine frische Brise?", fragt sich die FRANKFURTER ALLGEMEINE ZEITUNG. "Überhaupt muss sich die deutsche Forschung im Ausland überhaupt nicht verstecken", so beide Preisträger übereinstimmend – solche Töne hat man in den letzten Jahren doch eigentlich nie vernommen. Wie kann ein Forschungsstandort eigentlich so grundweg unattraktiv sein, wenn zwei Spitzenwissenschaftler – die doch nicht einsam vor sich hinpusseln, sondern große Teams leiten – hier offenbar ganz gut klarkommen? "Verkannte Stars" seien herausragende Naturwissenschaftler hierzulande, bedauert die FAZ, "Wer würde sie auf der Straße um ein Autogramm bitten?", wie Heidi Klum oder Thomas Gottschalk. Das mag bedauerlich sein, hat aber sicher auch mit dem Effekt des Riesenmagnetowiderstands, Katalysatoren oder dem Haber-Bosch-Verfahren zu tun, alles Themen, die nicht nur Showgrößen und ihre Fans nicht präsent haben. Gerhard Ertl im TAGESSPIEGEL. über das Fremdeln mit den Naturwissenschaften, das deutschen Intellektuellen so eigen ist:

" "Ich habe das Gefühl, das ist in unserem Land immer noch die Konsequenz eines Bildungsideals, das aus dem 19. Jahrhundert stammt. Von Goethe nie etwas gehört zu haben, traut sich niemand zu sagen. Aber man brüstet sich damit, von Chemie und Physik nichts zu verstehen. Das ist manchmal schon erschütternd."

Ertl ist übrigens ein musischer Mensch, am Tag der Verleihung des Nobelpreises hätte er eigentlich in einem Konzert Cembalo spielen sollen – er fährt trotzdem nach Stockholm. Das sei "höhere Gewalt".

"Das kommt zehn Jahre zu spät." – "Sie geht ja auf die neunzig zu." – "Supi, dann kann ich jetzt die Rechte noch teurer verkaufen!" – "Da hinten gibt's Champagner"."

Wir sind beim nächsten Nobelpreis, dem für Literatur, und die FRANKFURTER ALLGEMEINE hat gleich notiert, was sie bei der Frankfurter Buchmesse an spontanen Reaktionen zu hören bekam. In den Feuilletons überwiegen die Überlegungen, ob dieser Preis für Doris Lessing nun 20 oder doch gleich um 30 Jahre zu spät kommt, sympathisch die Reaktion von Ina Hartwig in der FRANKFURTER RUNDSCHAU, die sich an ihre Lektüre des Goldenen Notizbuchs erinnert – Lessings berühmtestes Werk aus dem Jahre 1962.

""Die deutsche Übersetzung erschien erst nach den großen Gefechten der Emanzipation, 1978, und um diese Zeit muss ich es auch gelesen haben, eine Gymnasiastin auf der Suche nach was auch immer … Es elektrisierte; in meinem Exemplar finden sich Anstreichungen, die auf innige Anteilnahme schließen lassen."

Die Reaktion Doris Lessings selber macht deutlich, das hinter der grand old Lady immer noch eine kratzbürstig quicke Frau steckt:

"Sie können den Nobelpreis keinem Toten geben. Deshalb haben sie wahrscheinlich gedacht, ihn mir besser jetzt zu geben, bevor ich abkratze."

Congratulation! Und damit – last but not least – zum Friedensnobelpreis an Al Gore und den Klimarat der Vereinten Nationen. "Nobelpreis gegen George W. Bush" titelt die FRANKFURTER RUNDSCHAU, und die FRANKFURTER ALLGEMEINE meint, der Begriff der Friedensforschung erhalte mit dieser Wahl einen ganz neuen Akzent. Gore, der "erste Weltinnenpolitiker", werde gewürdigt für sein "Engagement gegen sich erst abzeichnende Konflikte. Wer möchte angesichts der Befunde der Klimaforschung noch behaupten, jene notwendigen Voraussetzungen des Friedens – wie Energieversorgung, die nicht Kontinente verwüstet, Wasser, eine funktionierende Medizin, regionale Entwicklungschancen – seien garantiert auch in fünfzig Jahren noch gegeben?"

Und damit noch ganz kurz zu – Che Guevara. Können Sie sich den mit 80 vorstellen, mit Gehstock und Glatze? 40 Jahre nach seinem gewaltsamen Tod erlebt er eine Renaissance als Ikone der Linken in Lateinamerika, erfahren wir in der SÜDDEUTSCHEN ZEITUNG, und denken spontan an die Devise des Che: "Seien wir realistisch, versuchen wir das Unmögliche". Gilt doch sicher auch für Klimaforscher.