Von Tobias Wenzel

Der "Tagesspiegel" ehrt den verstorbenen Manager der Sex Pistols, Malcolm McLaren. Paul Ingendaay berichtet in der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung" von seiner Kindheit im kirchlichen Internat. Sealand, ein fiktiver Inselstaates in der Nordsee, wird Thema in der "Süddeutschen Zeitung".
"Gemeinschaftswaschräume betrete ich heute ungern, selbst wenn ich mich nicht mehr darin waschen muss","

schreibt Paul Ingendaay in der FRANKFURTER ALLGEMEINEN ZEITUNG. Denn der Journalist und Schriftsteller muss dann immer an einen ganz bestimmten Waschraum in einem westdeutschen katholischen Internat denken. Nicht etwa, weil er dort Opfer oder Zeuge eines sexuellen Übergriffes geworden wäre - das verneint er ganz ausdrücklich. Vielmehr, weil in dem Waschraum für den kleinen Paul und seine 43 Altersgenossen ein Gebot galt: Silentium. Das Schweigen. Überwacht durch die gnadenlose Schwester G.

""Heute weiß ich, dass es gutes Schweigen und schlechtes Schweigen gibt","

schreibt Paul Ingendaay weiter.

""Unsere Klosterschule hat uns beide Formen des Silentiums gelehrt, hier die stille Sammlung, um die Gedanken zu ordnen, dort das schamvolle Verdrängen und Vertuschen."

Ingendaay spielt darauf an, dass über den Selbstmord eines Erziehers und überhaupt den desolaten Zustand manch anderer bedauernswerter Erzieher kaum bis gar nicht gesprochen wurde:

"Lasse ich ihre Gesichter vor meinem inneren Auge vorbeiziehen, eines nach dem anderen, sehe ich eine auffallend lange Reihe von Depressiven, Systemverweigerern und Drop-outs. Einige schienen selbst nicht zu wissen, wie fehl am Platz sie waren."

Am richtigen Platz zur richtigen Zeit war dagegen der nun an Krebs verstorbene Künstler, Modemacher und Musikmanager Malcolm McLaren Mitte der 70er-Jahre.

"Für Malcolm McLaren war Kultur der Bauchladen des Zeitgeistes","

schreibt Ulf Poschardt im TAGESSPIEGEL in seinem Nachruf auf den Manager der Sex Pistols:

""Die vermeintlich heroischen Punk-Musiker der Sex Pistols wirkten dabei zuweilen, als seien sie nicht viel mehr als Forschungsobjekte in einem von Malcolm McLarens kulturellen Feldversuchen."

Aus drei dubiosen Musikern und einem Ladendieb formte der Londoner Betreiber eines kultigen Modeladens eine Truppe:

"Die Band wurde mit zerrissenen T-Shirts und Lederjacken ausstaffiert. McLaren verkündete das Credo, wer mehr als drei Akkorde beherrsche, könne kein Punkmusiker sein und fertig war die Provokation","

blickt Andrian Kreye in der SÜDDEUTSCHEN ZEITUNG zurück auf die legendäre Band und jenen Mann, der später behauptete, sie erfunden zu haben. Unbestritten ist jedenfalls, dass McLaren die Band rücksichtslos ausbeutete und, so Jörg Wunder im TAGESSPIEGEL, unter den Musikern als "Sklaventreiber" galt. Der Musikkritiker zitiert McLaren mit den Worten:

""Die Sex Pistols waren ein Kunstwerk. Mein Material ist nicht Farbe oder Ton, sondern Menschen. Ich benutze sie, missbrauche sie, manipuliere sie, weil ich an meine Idee glaube. Die Sex Pistols waren eine Idee, keine Band."

Auch "Sealand" ist eine Idee, allerdings kein Land. Auch wenn Tausende von Internetbenutzern geradezu eine Fangemeinde dieses fiktiven Inselstaates in der Nordsee bilden und Fotos vermeintlich echter Briefmarken und Münzen aus Sealand im World Wide Web veröffentlichen.

"Hypothetische Wahrheit" nennt der niederländische Medien-Designer Daniel van der Velden im Interview mit Tobias Moorstedt von der SÜDDEUTSCHEN ZEITUNG das Phänomen und erläutert es so:

"Was erzählt wird, ist nicht so sehr die Wahrheit, sondern etwas, das nur wahr sein könnte. Und das reicht den meisten Menschen offenbar aus. Warum sollte man auch Zeit verschwenden, die Wahrheit herauszufinden, wenn man sie so einfach schaffen kann?"