Von Tobias Wenzel

Warum wir den USA eigentlich dankbar sein müssten, was die neue Xbox mit der NSA zu tun hat und warum der Tod von Lou Reed in dieser Woche ungerechterweise etwas untergegangen ist - dazu befragt Tobias Wenzel heute die Feuilletons der großen Tageszeitungen.
Was war das denn?! Sie atmen ja richtig schwer. Klingt ungesund. Raucher? Wie bitte? Ja, klar kann ich Sie hören. Über das Mikrofon in Ihrem Radio. Noch nie etwas vom Zweiwege-Radio gehört? Wer sendet, will ja wohl auch etwas zurückbekommen, oder? Aber sehen kann ich Sie, lieber Hörer, nicht. Och, finden Sie jetzt traurig? Dann kaufen Sie sich doch einfach die Xbox One.

"XBOX IS WATCHING YOU", steht auf einer Internetgrafik, die die SÜDDEUTSCHE ZEITUNG in ihrer Samstagsausgabe abgedruckt hat. Die Spielekonsole, die Ende November in Deutschland verkauft werden soll, gleicht technisch dem fiktiven Televisor, dem Gerät, mit dem der Große Bruder, der Diktator aus George Orwells Roman "1984", mit Kamera und Mikrofon die Bürger überwacht. Ein Mikrofon und gleich drei Kameras hat auch die neue Xbox One, berichtete Markus Mähler in der SZ:

"Die Maschine wertet Bewegungen biometisch aus, sie merkt, ob ihr Besitzer lacht, staunt, gähnt, spricht, geht. Sie weiß, ob seine Augen geschlossen sind, gebannt auf den Fernseher starren oder zur Seite blicken. Sie wertet seine Muskelanspannung aus und sogar, wie stark er schwitzt. Sogar der Puls wird berechenbar, weil die Farbe der Gesichtshaut mit dem Herzschlag wechselt. Gefühle liest die Konsole an der Mimik ab […]"

Und ihre Wünsche teilen die Menschen der Xbox One freiwillig mit. "Fernsehmacher und Marktforscher sind entzückt", schrieb Mähler. "Datenschützer sind empört." Nur können Datenschützer den Konsolenspieler, der gerne überwacht werden möchte, vor sich selbst schützen?

Wie, die Kanzlerin wird von der NSA abgehört? Dann will ich aber auch! "Offenbar wollen wir die ganze Zeit ausspioniert werden!", sagte der Schriftsteller Ian McEwan im Interview mit dem TAGESSPIEGEL. "Lasst doch einfach alle mithören!", forderte Henryk M. Broder in der WELT, wo er bekanntlich betreut wohnen darf. Zu Broders Verteidigung: Es war nicht ganz leicht, nicht durchzuknallen in einer Woche, die fest im Griff eines einzigen Themas war: dem NSA-Skandal.

Willkommen also in einer Feuilleton-Woche der Überwachung. Da ging selbst der Tod des legendären Musikers Lou Reed etwas unter. Er hätte es verdient gehabt, im Sommerloch zu sterben, anstatt kurz nachdem bekannt wurde, dass das Handy von Angela Merkel von einem US-amerikanischen Geheimdienst abgehört wurde. 51 Prominente aus Kultur, Politik und Gesellschaft fordern schließlich im neuen SPIEGEL die Bundesregierung auf, Edward Snowden Asyl zu gewähren. "Strafe muss sein, liebe Amis!", schreibt Regisseur Leander Haußmann. "Edward Snowden gehört nicht zu Putin, Edward Snowden gehört zu uns", sagt die Schriftstellerin Monika Maron. Zu der kommen wir später noch einmal.

Der US-amerikanische Journalist Jeremy Scahill meldete sich gleich zu Wochenbeginn in mehreren deutschen Feuilletons zur NSA zu Wort. Scahill ist Experte für die Geheimdienste und Drohnenangriffe seines Landes. Im Gespräch mit der SÜDEUTSCHEN ZEITUNG erklärte er, dass Drohnen oft unschuldige Menschen töten, weil deren Identität nicht eindeutig feststehe oder sie sich zufällig in der Nähe von Terroristen aufhalten. In gewissen Gegenden Pakistans sei es deshalb lebensgefährlich, "zu Hochzeitsfesten, Begräbnissen oder Fußballspielen" zu gehen.

"Die NSA spielt in jedem Aspekt der schmutzigen Kriege der USA eine absolut zentrale Rolle", sagte Scahill weiter. "Die NSA ist einer der wichtigsten Teile in der Tötungsmaschine der USA."

So klare Worte von einem Landsmann sind offenbar unbeliebt in den USA. "Ich werde regelmäßig am Flughafen festgenommen und ausgefragt, wenn ich wieder in das Land einreise", erzählte Scahill in der BERLINER ZEITUNG. Journalisten stünden in den USA "unter einer gewissen Beobachtung, wenn nicht sogar Überwachung".

Was ist nur aus dem guten alten Amerika geworden? Was aus der gerne herausposaunten "liberty"?, fragte sich merklich erregt der Historiker Thomas Stamm-Kuhlmann in der FRANKFURTER ALLGEMEINEN ZEITUNG:

"Man muss tatsächlich den amerikanischen Botschafter vor das Schöneberger Rathaus schleppen und ihn fragen: Warum wurde hier jeden Tag um 12 Uhr die Freiheitsglocke geläutet, die ihr uns geschenkt habt? Habt ihr schon das Gefühl dafür verloren, dass ihr mit der Fetischisierung eurer Symbole euch längst der Notwendigkeit überhoben habt, mit den Überzeugungen Ernst zu machen, die einst dahinterstanden?"

Gab’s in dieser Woche nicht irgendetwas mit Kultur und ohne NSA? Jan Böhmermanns neue Sendung auf ZDFneo zum Beispiel? Ach nee, da ging’s ja auch um Überwachung, wie Matthias Kalle im TAGESSPIEGEL schrieb:

"Im besten Moment der Show band Böhmermann das Studiopublikum mit ein. Anhand der Ticketbestelldaten wurde im Internet nach Informationen über das Publikum gesucht – eine Frau wollte online ein Buntglasfenster verkaufen, was ihr sichtlich unangenehm war. Es wurde für sie noch schlimmer, als Böhmermann dieses Fenster unterm Schreibtisch hervorholte und es der Frau zurückgab."

Böhmermann is watching you! Und Monika Maron was watching Boris Becker.

In der FRANKFURTER ALLGEMEINEN SONNTAGSZEITUNG erzählt die Schriftstellerin, was am Anfang ihres Romans "Animal triste" stand:

"Den Ton für […] meinen […] Liebesroman habe ich morgens zwischen drei und vier Uhr gefunden, als Boris Becker in Amerika Tennis spielte. Ich sah ihn mit seinem ewigen Gehadere, wie er da auf dem Platz herumschrie und klagte, und da hatte ich plötzlich die Stimme einer alten, willkürlich erzählenden Frau im Ohr."

Danke, Amerika. Ohne Dich hätte Boris Becker damals nicht auf dem Platz gehadert wie eine alte Frau. Ohne Dich hätte Monika Maron den Ton für ihren Liebesroman nicht gefunden. Danke, Amerika. Danke auch, dass Du uns überwachst!

Was ist denn das? Klingt wie Schnappatmung. Sie wollen doch nicht etwa protestieren, lieber Hörer?