Von Tobias Wenzel

Der Rücktritt des Papstes in den sozialen Medien und der Berlinale-Beitrag des iranischen Regisseur Jafar Panahi ("Pardé") beschäftigen heute auch die Feuilletonisten der überregionalen Tageszeitungen.
"Der Papst gibt freiwillig auf – was ist nur aus der Hitlerjugend geworden?" Aus dem Internet kämen die besten Scherze zum Rücktritt des Papstes. Die etablierten Medien hechelten den sozialen Netzwerken nur hinterher. Behauptet Talkshow-Master a.D. Jan Böhmermann in der TAZ und referiert die Gags von Twitter, Facebook und Co.

Ratzinger habe nun endlich Zeit für Frau und Kinder. Der Papst habe vielleicht Sätze aus der Bibel verwendet, ohne die Zitate als solche zu kennzeichnen. Und noch ein Interpretationsvorschlag zum Rücktritt:

"Möglich, dass Benedikt XVI. […] auch die possierlichen Verkleidungen, spaßigen Kopfbedeckungen und zwerchfellerschütternden Rituale mit der Zeit als ein wenig überkandidelt und albern empfunden haben mag."

Auch die SÜDDEUTSCHE ZEITUNG ist beeindruckt von der schnellen Reaktionszeit der sozialen Netzwerke. Der Rücktritt des Papstes sei nur zwei Minuten nach der italienischen Nachrichtenagentur Ansa getwittert worden. Ihre Mitarbeiterin, Giovanna Chirri, hatte die sensationelle Nachricht zuerst verbreitet, wie Andrea Bachstein in der SZ schreibt.

Vatikanberichterstatterin Chirri war sich allerdings nicht ganz sicher, ob sie mit ihren rudimentären Schullatein-Kenntnissen das elaborierte Kirchenlatein des Papstes richtig verstanden hatte. Den Mut muss man erst mal haben, nur zu meinen, "Rücktritt" herausgehört zu haben, und dann die Nachricht selbstbewusst in die Welt hinauszutragen. Wenn der Papst nicht von "Rücktritt", sondern nur von seinem morgendlichen "Austritt" gesprochen hätte, wäre die Italienerin auf Lebenszeit eine Lachnummer gewesen.

Friedrich Christian Delius hätte bestimmt die Worte des Papstes mehrere Tage lang abgewogen, anstatt als erster die Interpretation herauszuposaunen. Der Schriftsteller, Chronist und Sohn eines evangelischen Pfarrers habe zwar zur 68er Bewegung gehört, sei aber "alles andere als ein Lautsprecher" seiner Generation gewesen, schreibt Harry Nutt in der BERLINER ZEITUNG, und in der FRANKFURTER RUNDSCHAU gratuliert F.C. Delius zum Siebzigsten und zitiert den Büchnerpreisträger. Der beschreibt, wie er 1966 bei einer Demonstration in Berlin vom Aktivisten zum Beobachter wurde:

"Als ich, der vorher mitdemonstriert hatte und nun vor weiteren Schritten zurückschreckte, stehenblieb und durch Aktionismus alles verraten sah und mich dabei ertappte, ein Zuschauer, nur ein Zuschauer zu sein, da kam mir, noch ehe schlechtes Gewissen sich breitmachen konnte, der befreiende Gedanke: Hier stehst du richtig, einer muss das beobachten, einer muss das vielleicht sogar aufschreiben irgendwann, und wer, wenn nicht du, der Prügeleien meidet, Gefahren ausweicht, kein Blut sehen kann."
Zum Chronisten seiner eigenen Gefangenschaft ist der iranische Regisseur Jafar Panahi geworden. Sein Film "Pardé", den er trotz seines Berufsverbots gedreht hat und zur Berlinale hat schmuggeln lassen, ist für Verena Lueken von der FRANKFURTER ALLGEMEINEN ZEITUNG "das Ereignis" des Festival-Dienstags gewesen.

Ein Drehbuchautor dunkelt die Fenster einer Villa am Meer ab, wird von den Behörden ebenso verfolgt wie sein als unrein geltender Hund. Eine mysteriöse Frau taucht auf. Türen öffnen sich von allein. "Es ist natürlich auch ein Szenario aus einem Überwachungsstaat, dessen Scherge die junge Frau sein könnte, wenn sie nicht gerade ein Gespenst ist oder eine Selbstmordkandidatin", analysiert Verena Lueken den Film.

Für Hanns-Georg Rodek von der WELT ist diese vermeintlich selbstmordgefährdete Frau vielmehr "die Verkörperung des freien Denkens". "Pardé" sei "ein höchst intimer Film, ein Psychogramm unter extremem Druck". Ein Kandidat für einen Bären, meint man herauszuhören. Entgegennehmen könnte ihn Regisseur Panahi als Gefangener in seinem eigenen Land, allerdings nicht.

Der eigentliche Stein des Anstoßes ist aber ein anderer, glaubt man dem französischen Dokumentarfilmer Claude Lanzmann, der nach Berlin gekommen ist, um seinen "Ehrenbären" abzuholen. Im Interview mit dem TAGESSPIEGEL sagt er:

"Der Tod ist skandalös, er ist der Skandal des Menschseins überhaupt."