Von Taschentüchern und Diamanten
Ohne sie gäbe es die meisten Geschichten nicht. Das Taschentuch, das in Shakespeares "Othello" die Eifersucht des Offiziers weckt, der entwendete Brief in der gleichnamigen Erzählung von Edgar Allan Poe, das Musikinstrument in Annie E. Proulx' Roman "Das grüne Akkordeon" – all diese von Hand zu Hand gehenden Dinge sind unabdingbar, ohne im Zentrum der Geschichten zu stehen.
Der Bielefelder Literaturwissenschaftler Michael Niehaus hat ihnen eine erstaunliche Studie gewidmet. Sein "Buch der wandernden Dinge" reicht keineswegs nur "Vom Ring des Polykrates bis zum entwendeten Brief", also von Friedrich Schiller bzw. Herodot bis zu Edgar A. Poe.
Niehaus erzählt auch von Filmen, Theaterstücken, Krimis, Märchen und populärer Literatur wie John R. R. Tolkiens "Herr der Ringe" oder Wilkie Collins' "Monddiamant". Oder vom Kinderspiel "Taler, Taler, du musst wandern", in dem ein Kind einen Taler ungesehen in einer Hand der Mitspieler versteckt, die es im Kreis umstehen. Ein zweites Kind versucht, das Versteck zu erraten. Der Taler ist wie Diebesgut: Wer ihn hat, freut sich nicht am Besitz. Er will den Taler weitergeben, weil er ihn verrät und aus der Anonymität in eine, so Niehaus, "Subjektposition" befördert. Der Mensch kontrolliert also das ihm zufallende Ding und seine Bedeutungen nicht. Es zeigt vielmehr zuvor unbekannte Beziehungen zu anderen auf – so wie das Taschentuch in "Othello". Oder es scheint ungeahnte Eigenschaften zu besitzen, was unvorhersehbare Folgen zeitigt.
Wenn ein Gegenstand von A zu B gelangt, ist es eine Sache und die Sache klar. Kommt ein Dritter hinzu, wird aus dem Gegenstand ein Ding. Von ihm heißt es nicht zufällig, es sei ein "merkwürdig Ding". Denn mit dem Dritten kommt das Geheimnis ins Spiel. Dies erscheint als Eigenschaft des Dings, aber tatsächlich handelt es sich, zeigt Niehaus, um ein dunkles, "rätselhaftes Begehren" der Subjekte, die durch das Ding miteinander verbunden werden.
Das Taschentuch in "Othello" bringt den schwarzen Offizier, Desdemona und den Intriganten Jago zusammen, dazu Jagos unwissende Ehefrau Emilia und Cassio, den vermeintlichen Geliebten Desdemonas.
Dem Rätselhaften geht Niehaus mit außerordentlicher Belesenheit nach. Auf juristische Erläuterungen zu "Rechtssachen" und "dinglichen Rechten" am Anfang antworten am Ende philosophische. Dazwischen öffnet sich eine Schatzkammer voll stets gut erzählter Dingstationen und -bedeutungen in Büchern, Filmen, Theaterstücken: Festhalten, Loslassen, Abstoßen, Schenken, Vermachen, Überlassen, Aufdrängen, Unterschieben, unwissentlich Erwerben, Rückkehr, Neutralisierung durch Unzugänglichmachen, Sammlung, Verschwinden usw.
Das nicht nur zwischen Othello, Desdemona und Cassio durch ein Ding hergestellte Dreieck wird beschrieben. Edelsteine, Briefe, Leichen und vieles mehr haben ihren Auftritt – und eine Wurst, die bei Johann Peter Hebel in der Pfanne auftaucht, an die Nase wandert und dank des dritten freien Wunsches wieder verschwindet.
Glücklich hält Michael Niehaus die Mitte zwischen einer theoretischen Betrachtung, die das wandernde Ding zum Modell reduziert (wie Jacques Lacans berühmte Interpretation von Poes "Der entwendete Brief"), und dem leicht möglichen Sichverlieren im Geschichtenuniversum. Das Buch ist ein seltener Glücksfall, es erinnert an die Werke des berühmten Peter von Matt. So schnell gibt man es nicht aus der Hand.
Besprochen von Jörg Plath
Michael Niehaus
Das Buch der wandernden Dinge. Vom Ring des Polykrates bis zum entwendeten Brief
Edition Akzente
Hanser Verlag
München/Wien 2009
406 Seiten, 21,50 Euro
Niehaus erzählt auch von Filmen, Theaterstücken, Krimis, Märchen und populärer Literatur wie John R. R. Tolkiens "Herr der Ringe" oder Wilkie Collins' "Monddiamant". Oder vom Kinderspiel "Taler, Taler, du musst wandern", in dem ein Kind einen Taler ungesehen in einer Hand der Mitspieler versteckt, die es im Kreis umstehen. Ein zweites Kind versucht, das Versteck zu erraten. Der Taler ist wie Diebesgut: Wer ihn hat, freut sich nicht am Besitz. Er will den Taler weitergeben, weil er ihn verrät und aus der Anonymität in eine, so Niehaus, "Subjektposition" befördert. Der Mensch kontrolliert also das ihm zufallende Ding und seine Bedeutungen nicht. Es zeigt vielmehr zuvor unbekannte Beziehungen zu anderen auf – so wie das Taschentuch in "Othello". Oder es scheint ungeahnte Eigenschaften zu besitzen, was unvorhersehbare Folgen zeitigt.
Wenn ein Gegenstand von A zu B gelangt, ist es eine Sache und die Sache klar. Kommt ein Dritter hinzu, wird aus dem Gegenstand ein Ding. Von ihm heißt es nicht zufällig, es sei ein "merkwürdig Ding". Denn mit dem Dritten kommt das Geheimnis ins Spiel. Dies erscheint als Eigenschaft des Dings, aber tatsächlich handelt es sich, zeigt Niehaus, um ein dunkles, "rätselhaftes Begehren" der Subjekte, die durch das Ding miteinander verbunden werden.
Das Taschentuch in "Othello" bringt den schwarzen Offizier, Desdemona und den Intriganten Jago zusammen, dazu Jagos unwissende Ehefrau Emilia und Cassio, den vermeintlichen Geliebten Desdemonas.
Dem Rätselhaften geht Niehaus mit außerordentlicher Belesenheit nach. Auf juristische Erläuterungen zu "Rechtssachen" und "dinglichen Rechten" am Anfang antworten am Ende philosophische. Dazwischen öffnet sich eine Schatzkammer voll stets gut erzählter Dingstationen und -bedeutungen in Büchern, Filmen, Theaterstücken: Festhalten, Loslassen, Abstoßen, Schenken, Vermachen, Überlassen, Aufdrängen, Unterschieben, unwissentlich Erwerben, Rückkehr, Neutralisierung durch Unzugänglichmachen, Sammlung, Verschwinden usw.
Das nicht nur zwischen Othello, Desdemona und Cassio durch ein Ding hergestellte Dreieck wird beschrieben. Edelsteine, Briefe, Leichen und vieles mehr haben ihren Auftritt – und eine Wurst, die bei Johann Peter Hebel in der Pfanne auftaucht, an die Nase wandert und dank des dritten freien Wunsches wieder verschwindet.
Glücklich hält Michael Niehaus die Mitte zwischen einer theoretischen Betrachtung, die das wandernde Ding zum Modell reduziert (wie Jacques Lacans berühmte Interpretation von Poes "Der entwendete Brief"), und dem leicht möglichen Sichverlieren im Geschichtenuniversum. Das Buch ist ein seltener Glücksfall, es erinnert an die Werke des berühmten Peter von Matt. So schnell gibt man es nicht aus der Hand.
Besprochen von Jörg Plath
Michael Niehaus
Das Buch der wandernden Dinge. Vom Ring des Polykrates bis zum entwendeten Brief
Edition Akzente
Hanser Verlag
München/Wien 2009
406 Seiten, 21,50 Euro