Von Seelenriffen, monogamen Betten und Konservenbüchsen

12.02.2010
Zwischen pianissimo und fortissimo entfalten Wolters und Richter eine klangliche Polarität, die überzeugt und Lust auf mehr Tucholsky macht. Wäre da nicht der Mangel an editorischer Sorgfalt, der dem Benutzer eines der unfreundlichsten Hörbücher der letzten Zeit beschert.
"Lieber Leser 1985-!
Alles an mir erscheint dir altmodisch: meine Art, zu schreiben, und meine Grammatik und meine Haltung...ah, klopf mir nicht auf die Schulter, das habe ich nicht gerne."

Er meinte, kein "Jahrhundertkerl" wie Heinrich Heine zu sein. Wohl aber einer seiner Gesellen. Kurt Tucholsky war ein Meister der Satire und der Überzeugung, dass sie "alles" darf. Nur leider würde nach einem guten Witz halb Deutschland missgelaunt auf dem Sofa sitzen.

Tucholsky war ein begnadeter Erzähler, Essayist, Lyriker und leidenschaftlicher Chanson- und Coupletschreiber. Und ein hemmungsloser Spötter in eigener Sache.

"Wenn jetzt einer herein käme und mich fragte, sagen Sie mal, was machen Sie eigentlich hier? Ich müsste antworten, ich vertreibe mir so mein Leben."

Doris Wolters und Ilja Richter nehmen unter die Lupe, was dieser Tucholsky eigentlich getrieben hat. Sie finden Gedichte, Anekdoten, Kalauer, mitunter ein Chanson.

Wolters tastet behutsam seine raffinierte Rhetorik ab. Und fördert leisen Sarkasmus und Melancholie hervor.

"Der soziologische Horizont der meisten Menschen ist klein wie der Boden einer Konservenbüchse. Sie wähnen sich im Himmel."

"Der Mensch ist ein Wirbeltier und hat eine unsterbliche Seele sowie auch ein Vaterland, damit er nicht zu übermütig wird."

Ilja Richter kann einem Grundzug in Tucholskys Texten nicht widerstehen und setzt auf Inszenierung. Pendelnd zwischen Ideal und Wirklichkeit gewinnt er ihnen neben den derben auch die seichten Nuancen ab.

"In stiller Nacht und monogamen Betten denkst du dir aus, was dir am Leben fehlt. Die Nerven knistern, wenn wir das doch hätten, was uns – weil es nicht da ist – leise quält."

Aber wann und wo die Texte entstanden und erschienen sind, dazu schweigt das Inhaltsverzeichnis. Keine editorische Notiz, kein Booklet. Das Hörbuch liefert einen Tucholsky im dichtenden Niemandsland. Das ist unverzeihlich. Entzündet sich seine brillante Diagnose des Zeitgeschehens doch gerade in der Geistesgegenwart.

"Tief verwurzelt im Deutschen der Drang in Reih und Glied zu stehn. Oder vielmehr die andern in Reih und Glied stehen zu lassen. Dieses Volk liebt es, Vorschriften zu ersinnen, die immer für andere gelten."

Der Pianist Helmut Lörscher, bekannt aus Fernsehauftritten mit Matthias Deutschmann und Georg Schramm, kennt sich im Satirefach bestens aus. Seine am Jazz und Blues geschulte Virtuosität verharrt nicht in der musikalischen Begleitung. Sie bildet eine eigene Dimension des Hörbuchs. Lörscher versteht Pointen zu intonieren.

Und aus den Seelenriffen, an denen die Vereinsamten in Tucholskys Texten stranden, macht er Refugien der Hoffnung.

Tucholsky liebte Bücher und Frauen. Beiden war er ein leidenschaftlicher Kritiker.

"Entweder du liest eine Frau oder du umarmst ein Buch, beides zugleich geht nicht. Jetzt aber ist Junggesellenzeit. Umarmen wir ein Buch."

In Christian Morgenstern lobpreist er den Satiriker. Bei Hermann Hesse vermisst er den Humor. Franz Kafka liest er mit tiefer Erschütterung.

"Wenn ich das unheimlichste und stärkste Buch der letzten Jahre: Franz Kafkas "Prozess" aus der Hand lege, so kann ich mir nur schwer über die Ursachen meiner Erschütterung Rechenschaft ablegen. Wer spricht? Was ist das?
Wir dürfen lesen, staunen, danken."

Zwischen pianissimo und fortissimo entfalten Wolters und Richter eine klangliche Polarität, die überzeugt und Lust auf mehr Tucholsky macht. Wäre da nicht der Mangel an editorischer Sorgfalt, der dem Benutzer eines der unfreundlichsten Hörbücher der letzten Zeit beschert.

Aber auch dazu hätte Kurt Tucholsky wohl einen Vorschlag unterbreitet.

"Man achte immer auf Qualität. Ein Sarg zum Beispiel muss fürs Leben halten."

Besprochen von Carola Wiemers

Kurt Tucholsky: Ich vertreibe mir so mein Leben. Gedichte, Satiren, Chansons
Mit Doris Wolters und Ilja Richter
Eichborn AG, 2010
1 CD, etwa 77 Minuten, 14,95 Euro