Von Rusalka bis Mahagonny - 200 mal Theater total

Von Dieter Kranz · 06.08.2005
Harry Kupfer ging es nie darum, jedermanns Liebling zu sein. Um die Meisterwerke der Opernliteratur, einem großen Publikum zum aufregenden Erlebnis zu machen und ihre Bedeutung für unsere Gegenwart zu entdecken, wählte er immer wieder radikale Mittel. Aber nicht nur einmal bekam dieselbe Inszenierung, über die sich bei der Premiere Befürworter und Kritiker heftig in die Haare geraten waren, nach den letzten Vorstellungen einhellige Ovationen.
Wegen der vielen physischen Aktionen, die Kupfer seinen Sängern oft abverlangt, haben Kritiker seine Bayreuther Version von Wagners Tetralogie den "Kletter-Ring" genannt. Wegen der sorgfältig ausgearbeiteten Arrangements ist er bei manchen auch als "Regie-Handwerker" verschrien.

Dass er jedoch wie wenige andere seine Sänger dazuführen kann, aus Opernpartien auf der Bühne lebendige Menschen zu machen, ist unumstritten. Kupfer ist ein Workaholic, Fünf Inszenierungen pro Jahr sind seine Norm, wobei eine bis zwei davon Reprisen gelten können. Von der Barock-Oper bis zu Uraufführungen zeitgenössischer Werke, von der Operette bis zur Tragödie, von Repertoire-Schlagern bis zu Raritäten hat er alles inszeniert, was sich anbot.

Nicht einmal das Musical hat er ausgelassen. Am Erfolg des Wiener Export-Schlagers "Elisabeth" ist er nicht nur als Regisseur, sondern auch als Mitautor des Textes beteiligt. Sein Credo, das bis heute gilt, formulierte er schon 1979:

"Ich will, dass die Zuschauer im Theater mitgehen. Sie sollen lachen und weinen und dabei das Denken nicht vergessen."

Dieter Kranz
Der Gegenwart auf der Spur.
Harry Kupfer, Der Opernregisseur.
2005 Henschel Verlag
Über Jahrzehnte setzten Harry Kupfers Inszenierungen für die moderne Operninterpretation Maßstäbe. Dabei ging es ihm nie darum, jedermanns Liebling zu sein. Um die Meisterwerke der Opernliteratur einem großen Publikum zum aufregenden Erlebnis zu machen und ihre Bedeutung für unsere Gegenwart zu entdecken, wählte er oft radikale Mittel. Aber nicht nur einmal bekam dieselbe Inszenierung, über die sich bei der Premiere Befürworter und Kritiker heftig in die Haare geraten waren, nach der letzten Vorstellung einhellige Ovationen. Dabei inszeniert er die ganze Bandbreite des Repertoires, von der Barockoper bis zu Uraufführungen zeitgenössischer Werke, von der Rarität bis zum Musical. Dieser Band dokumentiert Kupfers Arbeit in sieben Kapiteln. Besprochen werden mehr als 50 Inszenierungen, womit ein repräsentativer Querschnitt von Kupfers Schaffen bis heute berücksichtigt ist.


Die Komische Oper Berlin schreibt über Harry Kupfer:
…studierte Theaterwissenschaft in Leipzig. 1958 Debüt in Halle mit Dvoráks Rusalka und Übernahme der Leitung des Opernensembles am Theater in Stralsund. 1962 Oberspielleiter in Chemnitz. 1966 Operndirektion des Deutschen Nationaltheaters Weimar. Inszenierungen u. a.: Die Entführung aus dem Serail, Fidelio, Der Freischütz, Salome, Der letzte Schuss (Matthus). 1972 übernahm Harry Kupfer als Operndirektor und Chefregisseur die künstlerische Leitung der Staatsoper Dresden. 1981 wurde er als Chefregisseur an die Komische Oper Berlin berufen. Inszenierungen u. a.: Wagners Die Meistersinger von Nürnberg, Aribert Reimanns Lear und Händels Giustino (Erstaufführungen), Siegfried Matthus' Judith (Uraufführung), Boris Godunow (in Originalinstrumentation), Glucks Orpheus und Eurydike, Carmen, Hoffmanns Erzählungen, Julius Caesar in Ägypten, Die Fledermaus. Ebenfalls hervorzuheben ist der von Idomeneo bis Die Zauberflöte reichende Mozart-Zyklus. Zu seinen jüngsten Arbeiten an der Komischen Oper Berlin zählen u. a. Fidelio (1997), König Hirsch (1998), Orpheus in der Unterwelt (1999), Die Zauberflöte (1999), Titus (2000) und Elektra (2001). Im Oktober 2000 wurde Aribert Reimanns Oper Bernarda Albas Haus in der Regie von Harry Kupfer an der Bayerischen Staatsoper München uraufgeführt und erlebte im Juni 2001 die Berliner Erstaufführung. Gounods Romeo und Julia und Brittens The Turn of the Screw waren Harry Kupfers letzte Inszenierungen als Chefregisseur an der Komischen Oper Berlin. Für The Turn of the Screw erhielt er den Bayerischen Theaterpreis 2002 in der Sparte "Oper". Harry Kupfer ist Mitglied der Akademie der Künste in Berlin und der Freien Akademie der Künste in Hamburg und Professor der Berliner Musikhochschule. Auf der nunmehr 191 Arbeiten umfassenden Werkliste Harry Kupfers stehen Inszenierungen in Graz, Kopenhagen, Amsterdam, Cardiff, London, Wien, Salzburg, San Francisco, Moskau, Zürich, Frankfurt, Köln, Mannheim, Stuttgart, München und Hamburg. Der vollständige Wagner-Zyklus mit Daniel Barenboim an der Berliner Staatsoper Unter den Linden wurde zuletzt im Frühjahr 2002 zur Aufführung gebracht. Die Inszenierungen Der Fliegenden Holländer (1978) und Der Ring des Nibelungen (1988) bei den Bayreuther Festspielen wurden weltweit diskutierte Theaterereignisse. Zum Abschluss seiner Tätigkeit an der Komischen Oper Berlin wurde ihm das Große Bundesverdienstkreuz mit Stern der Bundesrepublik Deutschland verliehen.
Siehe: Komische Oper Berlin

"Sinnlichkeit ist eines der Zauberworte des Theaters"
(Harry Kupfer)

Aus dem Manuskript:
Harry Kupfers Start an der Komischen Oper hatte was vom Charme und der Frechheit dieser Stolzing-Szene. Er war Mitte vierzig, beherrschte sein Metier, platzte fast vor Arbeitslust und hatte sich schon in Dresden, an der Berliner Lindenoper und vor allem in Bayreuth als Wagner-Regisseur legitimiert. Nun also Wagners Komische Oper in der Komischen Oper. Die Fachwelt unkte, ein Werk dieser Dimension würde das Haus in jeder Hinsicht überfordern. Aber es wurde ein Triumph, eine musikalisch kompetente, spielerisch lebendige und gleichzeitig philosophisch tiefe Aufführung.

Der Countertenor Jochen Kowalski über seine Arbeit mit Harry Kupfer: "Ich hab das Riesenglück gehabt (und das können nur wenige Schauspieler oder Sänger von sich sagen), dass ich vom Anfang meiner Karriere an mit einem Meister- Regisseur arbeiten konnte, oder richtiger gesagt, dass er mit mir gearbeitet hat. Das ist natürlich auf andere Art auch gefährlich; denn man ist so geprägt und so verwöhnt, wenn man mit Kupfer arbeitet; man bekommt so viel und muss auf der anderen Seite so viel so viel geben... Die Opern von Händel und seinen Zeitgenossen wurden ja zum Singen komponiert und nicht zum Spielen. Heute fände man einen solchen Vortrag ziemlich langweilig. Ich werde oft gefragt , wie ich Gesang und Spiel unter einen Hut kriege. Über so etwas habe ich in Proben mit Kupfer nie nachgedacht."

Auszug aus dem Manuskript:
Von Eva Marton wollten wir wissen: Was ist damit gemeint, wenn Harry Kupfer fordert, der Sänger dürfe sich während der Probenarbeit nicht scheuen, "die letzte Tür aufzumachen?": Dazu Eva Marton:

"Für Kupfer war meine Haltung, meine körperliche Haltung wahnsinnig wichtig: dieser zerschlagene Mensch ... aber ich hatte sie immer noch nicht hundertprozentig . Da habe ich auch einen Wutanfall gekriegt: "Bist Du immer noch nicht genug schlampig? Du bist immer noch die Kammersängerin, die sich verstellt...?" Ich konnte nicht mehr. Und plötzlich war der Knoten geplatzt. Jetzt kann ich, wann immer ich will, in den Körper der Elektra schlüpfen schlaff sein. Die Schulter schon unten.... Immer hat er es irgendwie geschafft, mich aufzumuntern, wenn ich absolut unten war. Da gab es einen Abend zum Beispiel, da habe ich nicht einmal mehr eine Sprechstimme gehabt. Von Singen konnte keine Rede sein. Und trotzdem wollte ich das fixieren, was wir ausprobiert hatten. Ich habe den Pianisten gebeten zu spielen und die Souffleuse hat meinen Text gesprochen, damit ich alles noch einmal seelisch durchgehen konnte. Und er hat nur zugeschaut und dann gesagt: "Jetzt bin ich fix und fertig..... Das ist Harry.... Er hat gesagt: In dem Rahmen, den wir festgelegt haben, gebe ich Dir absolute Freiheit. Du kannst machen, was Du willst jetzt. Sei frei, sei ein denkender, schöpferischer Mensch. Wenn ich sehe, Du machst meine Regie nach, dann bin ich traurig." Da habe ich mich innerlich wahnsinnig gefreut."


Daniel Barenboim, 1992 GMD und Künstlerischer Leiter der Staatsoper Unter den Linden:
"Wissen Sie, es gibt Regisseure, die wirklich wunderbar spannendes Theater auf der Bühne machen, aber irgendwie getrennt von der Musik, wenn man es negativ aber treffend ausdrücken will: unmusikalisch. Und es gibt eine andere Gruppe von Regisseuren, die sehr musikalisch sind und die Partitur total beherrschen. Aber sie werden von ihrem Wissen so gesteuert, dass sie eine Art Holografie der Musik auf die Bühne stellen. Harry Kupfer ist für mich der ideale Regisseur in dem Sinn, dass er wirklich beides machen kann. "Der fliegende Holländer" war ja als Schauspielstück unglaublich stark, und trotzdem ging alles immer Hand in Hand mit der Musik. Kupfer versteht es wie nur sehr wenige Regisseure, dass die Motivation für eine Bewegung manchmal von der Musik kommt, aber ein paar Sekunden später kann die musikalische Motivation, sozusagen, auf der Bühne anfangen. Und dieses Hin und Her, dass die Musik nicht die Szene begleitet und die Szene nicht die Musik begleitet, sondern dass es ab und zu so oder so ist, das ist es, was seinen Aufführungen eine so große Spannung gibt. Aber das funktioniert wirklich nur, wenn Dirigent und der Regisseur den Probenprozess gemeinsam durchführen."


"Es sind immer Geschichten von Menschen für Menschen, die mich zur Auseinandersetzung mit den Fragen des Lebens zwingen."
(Harry Kupfer)

Auszug aus dem Manuskript:
So blieb Harry Kupfer auch in dieser Grundsatzfrage seinem Konzept treu, für den mündigen Zuschauer zu inszenieren, der lachen und weinen kann, wo das angebracht ist, und dabei das Denken nicht vergessen soll. Voraussetzung sind Aufführungen , die der Zuschauer auch verstehen kann. Das klingt wie ein Allgemeinplatz, ist auch einer, und trotzdem ist es Mode geworden, gegen diese simple Forderung permanent zu verstoßen - mit dem Argument, dass die Bühnenhandlung ja ohnehin in Text und Musik beschrieben werde, so dass die Inszenierung das Gleiche nicht noch einmal bieten müsse, sondern eine verallgemeinernde Spielebene hinzufügen sollte. So entstehen für den nicht speziell gebildete Zuschauer Bilderrätsel, die das Vorurteil nähren, Theater sei nun einmal eine schwierige Sache, ein Vergnügen der Spezialisten und für den Normal-Zuschauer unzugänglich. Harry Kupfers Opern-Inszenierungen waren niemals simpel eindimensional, drangen immer in Tiefenschichten der Werke vor. Und trotzdem kommunizierte der Regisseur mit seinen Zuschauern auf Augenhöhe.

Alles in allem betrachtet übergab Harry Kupfer als er am Ende der Spielzeit 2001/2002 die Komische Oper verließ seinem Nachfolger Andreas Homoki einen funktionierenden Theaterbetrieb. Am 18. Juli 2002 wurde er nach einer Vorstellung seiner Inszenierung von Verdis La Traviata vom Regierenden Bürgermeister Klaus Wowereit auf der Bühne der Komischen Oper verabschiedet. Klaus Wowereit: "Ihnen und Ihrem künstlerischen Wirken ist es zu verdanken, dass die Komische Oper in der Tradition Felsensteins ihr besonderes Profil im Dreiklang der Berliner Opernhäuser entwickelt hat. Und an dieser Stelle sei es ausdrücklich gesagt: Es ist nicht eine kleine Oper in Berlin, sondern neben der Deutschen Oper und der Staatsoper ist die Komische Oper ein gleichberechtigter Partner. Und das ist auch Ihr Verdienst."

Arnold Werner-Jensen
Opernführer für Junge Leute
Die beliebtesten Opern von der Barockzeit bis zur Gegenwart. Wissenswertes rund um die Oper.
Mit einem Vorwort von Harry Kupfer.
Mit Illustrationen von Reinhard Heinrich.
Ab 6 Jahre

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