Von politischer Satire bis zum losen Nonsense

31.01.2012
Ein Sammelband voller komischer Texte, von den Brüdern Grimm bis Loriot. Heiko Arntz hat ein Lesebuch zusammengestellt, das den literarischen Qualitätsanspruch und die Vergnügungssucht am Text gleichermaßen befriedigt.
Das Komische ist ein weites Feld: von der derben, volkstümlichen Pointe, wie sie vor allem die frühen Beispiele der Schwankliteratur bestimmt, bis zum subtilsten Sprachwitz; von der grotesken Komik bis zur feinsinnigen Ironie; von der politischen Satire bis zum losen Nonsense; vom realistischen Humor bis zu den Überspitzungen des Absurden. Der "Komische Kanon" hat ein offenes Ohr für die vielen Töne erzählerischer Komik, er bemüht sich um Artenvielfalt, wahrt aber die Grenze zur platten Witzigkeit, die Herausgeber Heiko Arntz mit Friedrich Theodor Vischer definiert: Wenn die Sache allein oder der Stoff selbst komisch wirken sollen und die Form selbst nichts hinzugibt.

Eine Auswahl ist immer anfechtbar. Nehmen wir Thomas Mann: Welche grandiosen komischen Szenen enthalten die "Buddenbrooks", der "Zauberberg" oder "Felix Krull" – dass Arntz die frühe Erzählung "Das Eisenbahnunglück" auswählt, mag deshalb verwundern, auch wenn man sie mit Schmunzeln liest. Brechts schlaue Geschichten vom Herrn Keuner sind so komisch nicht, von Fontanes wunderbarem Erzählhumor gibt es nur eine spärliche Kostprobe, und bei Heine, den man als Großmeister raffiniert ironischer Prosa schätzt, wirken die ausgewählten Passagen geradezu enttäuschend – nichts gewesen außer Göttinger Würsten? Dass der tragikomische Thomas Bernhard fehlt, ist eine echte Lücke. Auch Goethe sucht man vergebens. Der hatte zwar Humor, hat ihn aber nicht in der Prosa ausgelebt, umso mehr dafür in den Knittelversen des "Faust", für die Arntz keine Ausnahme macht, während er bei Karl Valentin, Loriot oder Heino Jaeger durchaus auch Szenen oder Dramolette in seinen Kanon aufnimmt.

Bei anderen Autoren ist die Auswahl sehr überzeugend, etwa bei Kafka oder den Brüdern Grimm, von denen das alle traditionelle Märchenmoral ins Absurde drehende Kurzmärchen "Herr Korbes" vertreten ist. Es gibt wunderbare Prosa von Arno Schmidt, dessen Komik in den ambitionierten Großwerken bisweilen etwas Verkniffenes hat, und eine schön absurde Geschichte von Heimito von Doderer über den erotischen Zusammenhang von "Bart und Bett". Oder Franziska zu Reventlow, eine der wenigen Frauen, die im Bereich der literarischen Hochkomik gewirkt haben: Der Ausschnitt aus ihrem Roman "Der Geldkomplex" ist so gut und lustig, dass man sich gleich eine Werkausgabe dieser Autorin beschaffen möchte.

Mehr als 400 Seiten entfallen auf das 20. Jahrhundert. Das hat auch damit zu tun, dass der spezifische Humor entfernter Epochen uns oft ebenso fremd geworden ist wie ihr Pathos. Obwohl man ebenso gut behaupten kann: Wenn heute überhaupt noch Literatur des fünfzehnten bis siebzehnten Jahrhunderts gelesen wird, dann die komisch-satirische: Eulenspiegel, Schildbürger, Grimmelshausens "Simplizissimus", die hier alle vertreten sind.

Unter den Humoristen der Gegenwart ragen übliche Verdächtige heraus: Robert Gernhardt mit einer göttlich-teuflischen Versuchungsgeschichte, Axel Marquardt, Joachim Lottmann und natürlich der unvergleichliche Max Goldt als Knigge und gewitztester Verhaltensforscher unserer Zeit. Übrigens ist auch der alte Freiherr selbst vertreten: mit einem Strauß Verhaltensregeln und Benimm-Formeln, die sich wie allerbeste Groteskprosa lesen.

Heiko Arntz hat ein Lesebuch zusammengestellt, das den literarischen Qualitätsanspruch und die Vergnügungssucht am Text gleichermaßen befriedigt. Und dazu viele Entdeckungen und Anregungen für weitere Lektüren bietet.

Besprochen von Wolfgang Schneider

Heiko Arntz: "Der komische Kanon. Deutschsprachige Erzähler von 1499-1999"
Galiani Verlag, Berlin 2011
752 S., 49,99 Euro
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