Von Paradiesen und Unterwelten

Rezensiert von Ralf Bei der Kellen |
Die Sehnsucht nach einem Ort, wo der Tod keine Macht hat, ist uralt. Das Buch "Die Jenseitsmythen der Menschheit" zeigt, wie die Religionen in verschiedenen und doch verwandten Bildern die "andere Welt" erfassen. Sie denken sich phantastische Topographien von Paradiesen und Unterwelten aus.
Jenseitsmythen erzählen vom Leben nach dem Tod. Sie berichten von einer anderen Wirklichkeit, von einer anderen Welt, in die der Mensch eintritt, wenn er gestorben ist. Im Laufe der Jahrtausende haben sich in verschiedenen Kulturen und Religionen verschiedene Vorstellungen vom Jenseits entwickelt. Diese haben die Herausgeber in diesem Buch versammelt.

Seit wann gibt es denn Jenseitsmythen?

Ein Ethnologe hat einmal gesagt: "Der Mensch ist das Tier, das weiß, dass es sterben muss." Seitdem der Mensch sich seiner selbst bewusst ist, seitdem er "ich" sagen kann, hat er auch über sein eigenes Ende sinniert. Und seitdem gibt es eben auch die Sehnsucht der Menschen nach einem Ort, wo der Tod keine Macht hat. Die Jenseitsmythen wären demnach so alt wie der "moderne Mensch", ca. 100.000 Jahre. Die Frage "Was passiert, wenn ich diese Welt verlasse?" hat nach Auffassung der Herausgeber in den beginnenden Kulturen die Religionen gezeugt.

Welches sind die ältesten aufgezeichneten Jenseitsmythen?

Die frühesten schriftlichen Zeugnisse sind Pyramidentexte der ägyptischen Frühzeit Mitte des 3. Jahrtausends v. Chr. In ihnen wird geschildert, wie der Pharao nach seinem Tod in Form eines Vogels in die Himmelswelt aufsteigt. Sie sind die ältesten Auferstehungstexte der Welt.

Für Juden, Christen und Muslime erfährt der Mensch entweder Erlösung im Paradies oder er rutscht ab in die Hölle, wo er Qualen erleidet. Wie sieht es bei den anderen Religionen aus?

Hindus und Buddhisten haben ein zyklisches Weltbild. Für sie durchläuft der Mensch einen Kreislauf von Wiedergeburten, das sogenannte "Samsara". Je nachdem, wie tugendhaft der Mensch in seinem vorherigen Leben gelebt hat, gestalten sich diese gut oder schlecht. Am Ende steht das Aufgehen in der Ewigkeit, das, was die Buddhisten das "Nirvana", die Verlöschung nennen.

Die "ethnischen Religionen", wie zum Beispiel in Indonesien, Afrika oder bei den Indianern, gehen davon aus, dass die Seelen der Toten in derselben Welt wie die Lebenden existieren, jenseits menschlicher Wahrnehmung, aber nicht jenseits dieser Welt. Selbst unsichtbar sehen sie den Lebenden zu. Für diese Religionen ist Leben und Sterben auf der Erde oft Teil eines ganzen Heiligen.

Können Sie mal ein konkretes Beispiel von einer Jenseitsvorstellung einer ethnischen Religion geben?

Die Eweer in Südtogo haben wie andere große Religionen auch ein dreistufiges Weltbild: Himmel – Erde – Unterwelt. Allerdings kommt ihrem Jenseitsmythos zufolge nach dem Tod niemand in den Himmel, sondern alle in die Unterwelt, die "große Heimat", wie die Eweer sie nennen. Wenn auf der Erde Nacht wird, so ist in der Unterwelt Tag. Die Verstorbenen werden mit Wegzehrung, Geld für die Überfahrt und Geschenken für die Angehörigen ausgerüstet. Sie steigen auf einen hohen Berg, überqueren einen breiten Fluss und kommen schließlich nach einem langen Fußmarsch in die Totenstadt. Handelt es sich um einen guten Geist, so wird seine Ankunft mit einem Fest gefeiert. Die anderen Geister verteilen sich auf die beiden weiteren Totenstädte. Diese sind der Gruppe der Nichtswürdigen und der der Mörder vorenthalten. Die Unterweltbewohner sind unsterblich, sehen aber alles, was auf der Erde vorgeht – auch ihre eigene Beerdigung.

Ist die Instanz des "jüngsten Gerichts" eigentlich eine typisch christliche Angelegenheit?

Nein. Den Gedanken für eine jenseitige Vergeltung irdischer Taten gibt es bereits seit Pythagoras, also seit ca. 550 v. Chr. Danach gibt es diese Instanz fast überall. Im Glauben des alten Iran mussten die Guten und die Bösen auf ihrem Weg ins Jenseits eine Brücke überqueren. Hatten sie tugendhaft gelebt, so war die Brücke breit, hatten sie in ihrem Leben viel Schlechtes getan, war die Brücke messerscharf, und sie stürzten in einen auf ewig sie verschlingenden Abgrund.

Christen, Muslime und viele andere Religionen kennen das Bild des Seelenwiegens. Eine besonders eindrückliche Form hiervon gab es in der Vorstellung der alten Ägypter: Hier wogen Anubis und Osiris das menschliche Herz gegen die Feder der Göttin Maat auf – einem Symbol für Wahrheit, Gerechtigkeit und Ordnung. War das Herz leicht, kam es in den Himmel. Erwies sich das Herz aufgrund von Sünden als zu schwer, so wurde es von einem krokodilköpfigen Monstrum als Personifikation eines zweiten Todes verschlungen. Die Instanz des "jüngsten Gericht" ist Ausdruck des Wunsches, dass den Menschen Gerechtigkeit widerfährt und dass Menschen, deren Vergehen im Diesseits unentdeckt blieben, im Jenseits bestraft werden.

Nun können aber die, die sich im Jenseits befinden, nicht mehr im Diesseits davon berichten. Aus welcher Quelle speisen sich diese Vorstellungen?

Viele Texte sind anonym verfasst worden, aber bei einigen Texten ist der Autor durchaus bekannt. Bei diesen handelt es sich zumeist um Erfahrungen in ekstatischen Zuständen, um sogenannte "Himmelsreisen", in denen Gläubigen die Welten des Jenseits gezeigt wurden.

Der Apostel Paulus berichtet in den Briefen an die Korinther von einem solchen "Hinaufreißen", das ihm widerfahren sei. Und auch Mohammed erlebte eine Reise durch sieben Himmel. Interessant ist dabei, wie sehr oft diese Jenseitsmythen sich an der jeweiligen Lebensrealität der Menschen hält. In der Paradiesvorstellung der Ägypter z.B. wird der Nil als Fluss beschrieben, der immer genug Wasser mit sich führt.

An wen wendet sich dieses Buch?

An jeden, der sich vom Titel angesprochen fühlt. Steinwede und Först verzichten auf jedwedes theologisches Fachvokabular und geben zu jedem der Texte eine kurze erläuternde Einführung. Und Mythen sind eben auch immer Erzählungen. Deshalb kann man dieses Buch eigentlich jedem Leser empfehlen, der Spaß am Eintauchen in mythische Welten hat.

Dietrich Steinwede und Dietmar Först: Die Jenseitsmythen der Menschheit
Patmos Verlag, Düsseldorf 2005,
160 Seiten, 19,90 Euro