Von Orpheus bis heute

"Eine kurze Geschichte der Musik" heißt der Eilflug durch 3000 Jahre Musikgeschichte, den die Schulmusikerin, Musikwissenschaftlerin und Journalistin Christiane Tewinkel auf 245 Seiten bewerkstelligt. Vom alten Griechenland bis hin zu zeitgenössischen Musiktreffen in Darmstadt und Donaueschingen reichen die Stationen ihres Buches; vom Schwirrholz bis zur E-Gitarre, von ersten Musiktheoretikern wie Kirchenvater Augustinus bis hin zu Komponisten wie Isabel Mundry.
Aber auch soziale, politische und gesellschaftliche Bedingungen für die Rolle der Musik im Abendland kommen in diesem anregenden, auch für jüngere Leser empfehlenswerten Werk nicht zu kurz.

"Bin ich normal, wenn ich mich im Konzert langweile?" hieß der fast subversive Titel des ersten Buchs von Christiane Tewinkel, das sie als musikalische Betriebsanleitung verstand.

Einen ähnlich munter- ehrfurchtslosen Ansatz verrät die Autorin in ihrem neuen Buch:

"Die Geschichte unserer Musik, das ist nicht mehr und nicht weniger als eine endlos geflochtene, vielfarbige Kordel."

Schon auf den ersten Seiten lässt Tewinkel viele dieser bunten Fäden aufleuchten. Deren Heterogenität zeigt auch, wie weit hier über den musikwissenschaftlichen Tellerrand geschaut wird. Wo genau sind die Anfänge der Musik?

Bei den ersten Meteroriten, die vor vielen Milliarden Jahren auf der Erde einschlugen, beim Auftreten der ersten Singvögel oder bei den Äußerungen unserer Vorfahren, die sich vor fünf Millionen Jahren mit Schreien, Grunzern und Seufzern verständigten?

Tewinkel beginnt schließlich mit der Figur des Orpheus, dessen Gesang und Saitenspiel Götter und Menschen, Tier und Stein rührten. Seine Geschichte wurde vor rund 3000 Jahren erstmals aufgeschrieben - und damit erstmals die Wirkung, die Einzigartigkeit der Musik thematisiert.

Wenige Jahrhunderte später geht Pythagoras dem Phänomen Musik tiefer auf den Grund: Er erkennt in den genauen Zahlenverhältnissen von Oktave, Quinte und Quarte erste Hinweise auf die "heimliche Ordnung" der Musik, von der er - wie im übrigen für das gesamte Universum - überzeugt ist.

Viele dieser Aspekte und Motive tauchen im Verlauf des Buches wieder auf: Orpheus zum Beispiel in Claudio Monteverdis gleichnamigem Bühnenwerk - diesem "Orfeo" ist gemeinsam mit Bachs Matthäuspassion eines von insgesamt 12 Kapiteln gewidmet; auch die Rolle der Zahlen, zum Beispiel in der Zwölftonmusik, wird wieder aufgegriffen, und last not least der Gesang in unterschiedlichen Epochen.

Angefangen bei der Gregorianik im Mittelalter, wie sie in den Klöstern entwickelt wurde, über die Mehrstimmigkeit der Renaissance bis hin zum Kunstlied im 19. und zur Wandervogel-Bewegung des frühen 20. Jahrhunderts samt deren Pervertierung im Dritten Reich.

Besonders viel Licht bringt Christiane Tewinkel in die Kapitel über das Mittelalter; sie schaut förmlich hinter die Klosterwände und beschreibt sehr plastisch die symbiotische Beziehung zwischen Religion und Musik sowie die Rolle der Kirche bei der Notierung und Kanonisierung von Musik.

Es mag an den Vorkenntnissen des musikinteressierten Lesers liegen (und an der Verknappung der Themen!), wenn andere Kapitel, zum Beispiel über Mozart, Beethoven oder Wagner, nicht allzu viel Überraschendes bringen. Neu und erfrischend ist allenfalls der Tonfall, mit dem Christiane Tewinkel zum Beispiel den Tristan-Akkord beschreibt:

" ... ein kleiner Absprungton, in den Celli, dann alle zusammen , hep, nach oben, halten, stärker werden, sehnsuchtsvoller ... Langsam nun heruntersinken, und dann auf einmal, von überall her, Töne dazu und darum herum ... Ausfasern, Stille."

Und doch: Trotz der gelegentlich flapsig- flotten Ausdrucksweise überzeugt dieses Buch durch Fachwissen und Kompetenz. Es ist ein munteres, sehr kurzweiliges Nachdenken über Musik von ganz weit oben.

Und dem eingangs erwähnten Bild der vielfarbigen Kordel entsprechend spannt die Autorin überraschend viele Fäden zwischen den Jahrhunderten, den Wissenschaften, den Musikern. So endet Tewinkels Flug durch die Musikgeschichte nicht zufällig mit dem Hinweis: Wer die einzelnen Stränge deutlicher zu erkennen weiß, kann das Ganze noch besser genießen.


Rezensiert von Olga Hochweis


Christiane Tewinkel: Eine kurze Geschichte der Musik
Dumont, Köln 2007, 245 Seiten 14,90 Euro