Von Opfern und Verlierern

Von Eva Maria Götz |
Eigentlich möchte niemand ein Opfer sein und Leid am eigenen Leib empfinden, aber die Aufmerksamkeit und die Wertschätzung, die Opfern in der Öffentlichkeit entgegengebracht wird, weckt Begehrlichkeiten. Eine Tagung in Potsdam beschäftigte sich damit, wie sich der Begriff und der Status des Opfers in den letzten Jahrzehnten gewandelt hat und was Opfer und Verlierer unterscheidet.
Die veränderte Haltung Opfern gegenüber, so der Direktor des Hamburger Instituts für Sozialforschung und Germanist Jan Philipp Reemtsma, lässt sich festmachen an einer neuen Literaturgattung, die es vor 1945 nicht gab, die sich jedoch in den letzten Jahren einer zunehmenden Beliebtheit erfreut. Er nennt sie:

„… Opfermemoiren, also Menschen, die etwas Bedrohliches überlebt haben, die in der ersten Person Singular darüber berichten und denen eine Bedeutung zugeschrieben wird, die haben uns etwas über die Welt zu sagen, was wir selber nicht wissen. Man könnte ja auch sagen, die haben etwas über Extremsituationen zu sagen, die wir wahrscheinlich nie erleben werden und insofern ist es nicht relevant.“

Nicht mehr der Täter und nicht mehr der Held, der sich selbst zum Opfer bringt und zum Märtyrer wird, stehen im Mittelpunkt dieser Erzählungen. Stattdessen ist es der Mensch, der Leid erlebt hat, den lediglich auszeichnet, dass er zum Opfer von Aggression, Folter, Kriminalität wurde. Er erregt unser Interesse, unser Mitleid, manchmal sogar und auch das ist laut Reemtsma eine neue Entwicklung, unseren Neid. Zwar will niemand selbst zum Opfer werden, viele ertragen, schildert das Entführungsopfer Jan Philipp Reemtsma wohl auch aus persönlicher Erfahrung, nicht einmal die körperliche Anwesenheit eines Menschen, der zum Opfer wurde, in ihrer Nähe und geben ihm instinktiv sogar eine Mitschuld an seiner Situation. Doch sind der Wille und die Fähigkeit, sich mit einem Opfer zu identifizieren, enorm gestiegen.

„Ich bin da der traditionellen Meinung, die Lessing in seiner hamburgischen Dramaturgie entwickelt hat, dass es die Basis aller Moral ist, mit fremdem Leid sich identifizieren zu können. … Und das ist das, was diesen nach wie vor existierenden Affekt gegen das Opfer sozusagen übertönt: Es nimmt ihn nicht weg, es macht ihn nicht kaputt, der ist da, der ist in uns allen, das gehört zu unserer menschlichen Substanz, den zu haben. Aber es kann eine kulturelle Umbildung eine Gegenkraft aufbauen, so wie wir alle zu Grausamkeit fähig sind und gleichzeitig eine Kultur Grausamkeit tabuisieren kann und dann ist die Wahrscheinlichkeit sehr hoch, dass wir sie nicht ausüben.“

Geradezu einen auch rechtlich fixierten Anspruch auf die Operrolle macht der Rechtsphilosoph und Schriftsteller Bernhard Schlink am Beispiel der deutschen Mentalität nach dem ersten Weltkrieg oder der Lage der Palästinenser heute fest. Ein verhängnisvolles Beharren auf dem erlittenen Unrecht, wie Schlink meint, nimmt es doch jede Chance auf Neuanfang und Veränderung.

„Die Operkultur lebt aus der Erinnerung an Ketzer- und Hexenverfolgung, an Sklaverei, dem türkischen Genozid an den Armeniern, die Killing Fields Stalins und Pol Pots und, alles andere überragend, den Holocaust. Dass der Status des Opfers ein Status des Unrechts ist, ist hier so evident, dass es auch auf die überschießt, die gekämpft und verloren, vielleicht sogar sich ins Unrecht gesetzt und die Kämpfe begonnen haben. Sind sie erst einmal Opfer geworden, gesteht die heutige Opferkultur ihnen das Gefühl des verletzten Rechts zu.“

Wie lähmend und kontraproduktiv das Bestehen auf der Opferrolle werden kann, schildert der polnisch-jüdische Publizist Konstanty Gebert, der die Entwicklung des Antisemitismus in Polen nach dem zweiten Weltkrieg aus einer Form der Operkonkurrenz erklärte. Dass Polen das erste Land war, das der deutschen Wehrmacht zum Opfer gefallen ist, dass die Bevölkerungsgruppe, die die meisten Opfer in den Vernichtungslagern zu beklagen hat, Polen war, wird nicht genug gewürdigt, was Gebert daran festmacht, dass meistens verallgemeinernd von den „jüdischen Opfern“ des Holocaust gesprochen wird, während anderseits die deutschen Lager in Polen als die „polnischen Konzentrationslager“ bezeichnet werden und sich die Polen damit sogar als der Täterseite zugerechnet sehen.

Auch die Tatsache, dass den Juden nach Ende des Krieges ein eigener, freiheitlicher Staat zugestanden wurde, während sie selbst jahrzehntelang unter sowjetischer Besatzung leben mussten, führt dazu, dass sich die Polen als „Opfer 2. Klasse“ empfinden. Und Opfer, so Konstanty Gebert, wollen ungeteilte Aufmerksamkeit und werden blind für das Leid anderer, wie man auch am Verhalten Israels gegenüber den Palästinensern sehen kann. Nur das Ernstnehmen der eigenen Verantwortung und das Verständnis für die Geschichte des jeweils Anderen, könnte den Teufelskreis aus Antisemitismus und Gleichgültigkeit durchbrechen, den Konstanty Gebert als den nachhaltigsten Sieg Hitlers bezeichnete.

„Natürlich ist es eine Einladung an andere, von dem moralischen Prestige, wie das Opfersein heute definiert wird, sich ein Teil an sich zu nehmen.“

Meint der Schriftsteller Hans Magnus Enzensberger, der die islamistischen Terroristen als ein Kollektiv von Verlieren, die für sich eine Opferrolle beanspruchen, beschreibt.

„Dann gibt es aber noch die Möglichkeit, wenn jemand so ein Verlustempfinden hat, … er kann sich anderen Leuten anschließen, die in einer ähnlichen Situation sich befinden, dann wird ein Kollektiv daraus. Auf weltweiter Ebene ist seit dem Zusammenbruch der kommunistischen Ideologien nur noch ein Angebot vorhanden, das transnational operieren kann und das ist der Islamismus.“

Das Opfer eigentlich immer Verlierer sind, Verlierer aber nicht notgedrungen Opfer, ist nur ein Fazit dieser komplexen und hoch spannenden Tagung. Deutlich wurde, dass das Bestehen auf dem tatsächlichen oder vermeintlichen Opferstatus, das Gedrängt- Sein oder von anderen in die Rolle des immerwährenden Opfers gedrängt werden, ob nun für ein Individuum, eine Gruppe oder eine Nation fatale Folgen hat.