Von Menschen und Bürgern

Von Eberhard Straub · 21.03.2012
Bürgerlichkeit verpflichtete einst zu einer Haltung. Solange es noch Bürger gab, Proletarier, Klassenkampf, gab es Stolz und Ehre. Jetzt gibt es nur noch Menschen, die demütig einander ihre Verfehlungen gestehen müssen.
Die Aufregungsbedürftigkeit unter Deutschen als Erziehern zu moralischer Sauberkeit ist meist so unangemessen wie der Anlass für ihre Empörung. Die übertriebene Skandalisierung von Bagatellen weckt ein Heimweh nach Format - nach dem großen Laster. Toll trieben es die alten Römer, Fürsten der Renaissance oder enthemmte Bürger während der französischen Revolution. Da gab es Verschwendung, Frechheit, Betrug, sittliche Verkommenheit, Mord und Totschlag. Es handelte sich um eine nahezu prunkvolle Verworfenheit - zuweilen mit Witz, Charme und Eleganz.

Auch das Böse wirbt mit Pomp und Festlichkeiten, sonst wäre es nicht so verführerisch. Zum Laster gehören Fantasie, Energie und Mut, die gleichen Seelenkräfte, wie zur Tugend. Sie verhelfen dazu, außergewöhnliche Dinge zu tun. Tugend und Laster waren mit großen Leidenschaften verbunden und mit einem kühnen Streben.

Vor Leidenschaften wird mittlerweile gewarnt, weil sie überhaupt nicht cool sind, und die Tugend hat ohnehin ihr Prestige verloren. Keiner spricht mehr von ihr. Sie wurde durch Korrektheit und Kompetenz ersetzt. Wer kompetent wirkt, verfügt über Ausstrahlung oder gar Charisma. Was soll da noch Tugend?

Mit der Tugend verschwand aber auch das Laster. An dessen Stelle trat gesetzwidriges Verhalten oder das kreative Ausschöpfen von Gesetzeslücken. Das ist insofern erstaunlich, weil der Bürger einmal seinen Stolz daraus gewann, selbstlos dem allgemeinen Wohl zu dienen, um bei dem Mangel idealer Seelenglut ein aufmunterndes Beispiel zu geben.

Bürgerliche Tugend beruhte auf ungeschriebenen guten Sitten, die von der Ehrbarkeit lebten, von Übereinkünften über das, was man tut oder lässt. Sie haben sich aufgelöst mit dem allmählichen Verschwinden des Bürgertums, das einmal großes Streben und große Leidenschaften mühelos verband.

Die Bürger waren nicht Einzelne, Teil eines Publikums, wie heute das souveräne Volk genannt wird, sondern sie wollten das Volk sein und für das Volk mitbestimmend reden und handeln. In der nachbürgerlichen Zeit gibt es nur noch viele Streber, die in Hinterzimmern taktieren, intrigieren und dabei an ihren kleinen Vorteil denken.

Das ist unvermeidlich in Zeiten, in denen die Habgier und Gewinnsucht als wichtigster Motor in einer Wettbewerbsgesellschaft gefeiert und gefordert werden. Beide sind die Voraussetzung für den Erfolg. Der Erfolg ist der Ruhm des kleinen Mannes, des Strebers, des Besserverdienenden, der den Bürger abgelöst hat.

Jeder ist seines Glückes Schmied: So lautet die Devise. Sie mahnt jeden zur Vorsicht, bedächtig eine Stufe nach der anderen auf der Karriereleiter zu nehmen. Der Umsichtige macht kleine Schritte und denkt an das jeweils Erreichbare. Der Ungeschickte bleibt erfolglos.

Das ist die schwerste Strafe in einer Gesellschaft, die sich allein über den Wettbewerb legitimiert und in der alles käuflich und jeder ein Koofmich sein muss, um richtig mitspielen zu können. Deshalb wird auch gar nicht mehr vom Bürger gesprochen, vom bürgerlichen Stil oder bürgerlicher Verantwortung.

Bürgerlichkeit verpflichtete zu einer Haltung. Jetzt gibt es nur noch Menschen, "draußen im Lande". Die allgemeine Menschwerdung macht rapide Fortschritte. Wo es nur noch Menschen gibt, menschelt es. Bürger mit Bürgerstolz und bürgerlichen Tugenden werden nicht mehr gebraucht. Denn der Mensch soll dem Menschen als Mensch begegnen.

Aus der Rechtsgemeinschaft von Bürgern wird ein Verein von Menschen, denen nichts Menschliches fremd ist, die aber allzu Menschliches verurteilen, sobald sich der Mitmensch Vorteile verschafft, die auch sie gerne ausnutzen würden. Dann regt sich der Neid, die mächtigste Leidenschaft.

Dessen unvermeidliche Begleiterin ist die Heuchelei. Solange es noch Bürger gab, Proletarier, Klassenkampf, gab es Stolz und Ehre. Jetzt gibt es nur noch Menschen, die demütig einander ihre Verfehlungen gestehen müssen.

Darin liegt gerade keine Beruhigung. Denn der Mensch kann, wie der Münchner vermutet, vielleicht gut sein: "aber d' Leit san a G'sindel". Die Leute, wie es auf schriftdeutsch heißt. Und die meisten Menschen san halt Leit, also G'sindel, vor allem die Tugendwächter ohne Tugend.

Eberhard Straub, geboren 1940, studierte Geschichte, Kunstgeschichte und Archäologie. Der habilitierte Historiker war bis 1986 Feuilletonredakteur der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung" und bis 1997 Pressereferent des Stifterverbandes für die Deutsche Wissenschaft. Heute lebt er als freier Journalist in Berlin. Buchveröffentlichungen u. a. "Die Wittelsbacher", "Drei letzte Kaiser", sowie "Das zerbrechliche Glück. Liebe und Ehe im Wandel der Zeit" und "Zur Tyrannei der Werte".
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