Von Maximilian Steinbeis
Warum Marx immer noch aktuell ist und warum die Jugend in Spanien auf die Straße geht - die wichtigsten Themen der Feuilletons.
Um Revolution dreht sich heute bemerkenswert viel im deutschen Feuilleton, und nicht immer findet sie dort statt, wo man sie vermutet: "Revolutionen auf dem Rasen" heißt ein Buch des britischen Fußballjournalisten Jonathan Wilson, das die SÜDDEUTSCHE ZEITUNG mit ungezügelter Begeisterung bespricht:
"Es gibt ein Fußballexpertentum, bei dem man wirklich etwas Interessantes erfährt", freut sich Heinrich Geiselberger, und zwar dies: "Die Entwicklung beginnt mit der auf englischen Fußballplätzen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts dominanten 2:3:5-Formation, also einer auf dem Kopf stehenden Pyramide, die im Verlauf der letzten 150 Jahre auf die Füße gestellt wurde, sodass heute beinahe alle Spitzenmannschaften mit einem 4:2:3:1-System oder dem sogenannten "Weihnachtsbaum" (einer 4:3:2:1-Formation) antreten ..."
Wir unterbrechen hier und sinnen einen Moment lang der Herkunft dieser Vom-Kopf-auf-die-Füße-Stellen-Redewendung hinterher, und richtig, das stammt, apropos Revolution, von Karl Marx, der einst diese Behandlung Hegels Dialektik angedeihen lassen wollte und jetzt in der FRANKFURTER RUNDSCHAU Eckhard Fuhr zum Nachdenken anregt über die Gründe, warum sich plötzlich alle wieder mit ihm beschäftigen:
"Marx wäre von der Kernenergie als einem Gipfel der Naturbeherrschung begeistert gewesen", erinnert Fuhr. "Wenn es sich lohnen sollte, Marx neu zu denken, müsste man bei ihm etwas darüber nachlesen können, wie Freiheit und Selbstbestimmung des Individuums in ärmer werdenden Gesellschaften erreicht werden können. Aber ein Sozialismus des freiwilligen Verzichts, der Selbstbescheidung, der Umkehr lag jenseits seines Horizonts."
Vorwärts immer, rückwärts nimmer – die marxistische Gewissheit, wo vorn ist und wo hinten am Zeitstrahl der Geschichte, bringt ein Text von Jürgen Brocan in der NEUEN ZÜRCHER ZEITUNG gehörig ins Wanken, ein Text, der sich mit dem Ruhrgebiet befasst und den Versuchen, Industrielandschaften zu renaturieren.
"Alte Fahrten, Malakowtürme, schön wie Kathedralen, Viadukte mit herrlichen Steinbögen und kühne Stahlkonstruktionen", erregt sich der NZZ-Autor und beklagt, "dass der Charme der streckenweise in übermoosten, filigran gemauerten Rinnen strömenden Emscher verschwinden wird und dass die Erzwingung eines natürlichen Bachbetts mit Erdumwälzungen und massenhaften Baumentwurzelungen erkauft wird".
Ganz Gegenwart und ohne Zweifel revolutionär ist, was derzeit in Madrid passiert: der Aufstand der Jugend gegen ein politisches System, das sie marginalisiert. Im TAGESSPIEGEL benutzt der spanische Publizist Bernardo Gutiérrez in seinem Text über die Twitter-Revolution auf der Puerta del Sol einen geradezu verstörend schönen Begriff:
"Die Hellsichtigen", schreibt er ohne erkennbare Irritation über den Doppelsinn dieses Wortes, "verstehen die Spanishrevolution als Avantgarde auf dem Weg zum politischen System 2.0.( ... ). Zurzeit wird im Netz die Wikipartei geboren. Gleichzeitig aber veranstaltet die spanische Volkspartei Pressekonferenzen ohne das Recht auf Nachfragen. Die Politik panzert sich. Gegen das, was draußen langsam wächst und gedeiht."
Mit der Analyse dieser Sprachbilder könnte man sich noch stundenlang aufhalten, aber wir wollen lieber noch ein bisschen bei einem wunderbaren Text aus der FRANKFURTER RUNDSCHAU verweilen, der vom Schneider von Ulm handelt, dem Flugpionier Albrecht Ludwig Berblinger, der vor genau 200 Jahren auf so blamable Weise in die Donau fiel.
Im "Resonanzraum der Revolution", zwischen der politischen von 1789 und der industriellen, erfand in Ulm 150 Jahre avant la lettre ein Schneider den Gleitdrachen und, so schreibt FR-Autor Christian Thomas, stürzte sich damit erfolgreich "die Hänge der Schwäbischen Alb herab, wo, ja, der Wind, der Wind, das himmlische Kind, die physikalischen Gesetze den Vogelmenschen trugen, ohne dass er gewusst hätte, warum". Die Fallwinde über der Donau brachten ihn ganz buchstäblich zu Fall, und deshalb ging der Schneider, so der FR-Autor, in die "Vogelmenschengeschichte" – noch so ein wunderbares Wort – ein als "tragischer Heros" und "obendrein als typischer Antiheld der Moderne".
"Es gibt ein Fußballexpertentum, bei dem man wirklich etwas Interessantes erfährt", freut sich Heinrich Geiselberger, und zwar dies: "Die Entwicklung beginnt mit der auf englischen Fußballplätzen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts dominanten 2:3:5-Formation, also einer auf dem Kopf stehenden Pyramide, die im Verlauf der letzten 150 Jahre auf die Füße gestellt wurde, sodass heute beinahe alle Spitzenmannschaften mit einem 4:2:3:1-System oder dem sogenannten "Weihnachtsbaum" (einer 4:3:2:1-Formation) antreten ..."
Wir unterbrechen hier und sinnen einen Moment lang der Herkunft dieser Vom-Kopf-auf-die-Füße-Stellen-Redewendung hinterher, und richtig, das stammt, apropos Revolution, von Karl Marx, der einst diese Behandlung Hegels Dialektik angedeihen lassen wollte und jetzt in der FRANKFURTER RUNDSCHAU Eckhard Fuhr zum Nachdenken anregt über die Gründe, warum sich plötzlich alle wieder mit ihm beschäftigen:
"Marx wäre von der Kernenergie als einem Gipfel der Naturbeherrschung begeistert gewesen", erinnert Fuhr. "Wenn es sich lohnen sollte, Marx neu zu denken, müsste man bei ihm etwas darüber nachlesen können, wie Freiheit und Selbstbestimmung des Individuums in ärmer werdenden Gesellschaften erreicht werden können. Aber ein Sozialismus des freiwilligen Verzichts, der Selbstbescheidung, der Umkehr lag jenseits seines Horizonts."
Vorwärts immer, rückwärts nimmer – die marxistische Gewissheit, wo vorn ist und wo hinten am Zeitstrahl der Geschichte, bringt ein Text von Jürgen Brocan in der NEUEN ZÜRCHER ZEITUNG gehörig ins Wanken, ein Text, der sich mit dem Ruhrgebiet befasst und den Versuchen, Industrielandschaften zu renaturieren.
"Alte Fahrten, Malakowtürme, schön wie Kathedralen, Viadukte mit herrlichen Steinbögen und kühne Stahlkonstruktionen", erregt sich der NZZ-Autor und beklagt, "dass der Charme der streckenweise in übermoosten, filigran gemauerten Rinnen strömenden Emscher verschwinden wird und dass die Erzwingung eines natürlichen Bachbetts mit Erdumwälzungen und massenhaften Baumentwurzelungen erkauft wird".
Ganz Gegenwart und ohne Zweifel revolutionär ist, was derzeit in Madrid passiert: der Aufstand der Jugend gegen ein politisches System, das sie marginalisiert. Im TAGESSPIEGEL benutzt der spanische Publizist Bernardo Gutiérrez in seinem Text über die Twitter-Revolution auf der Puerta del Sol einen geradezu verstörend schönen Begriff:
"Die Hellsichtigen", schreibt er ohne erkennbare Irritation über den Doppelsinn dieses Wortes, "verstehen die Spanishrevolution als Avantgarde auf dem Weg zum politischen System 2.0.( ... ). Zurzeit wird im Netz die Wikipartei geboren. Gleichzeitig aber veranstaltet die spanische Volkspartei Pressekonferenzen ohne das Recht auf Nachfragen. Die Politik panzert sich. Gegen das, was draußen langsam wächst und gedeiht."
Mit der Analyse dieser Sprachbilder könnte man sich noch stundenlang aufhalten, aber wir wollen lieber noch ein bisschen bei einem wunderbaren Text aus der FRANKFURTER RUNDSCHAU verweilen, der vom Schneider von Ulm handelt, dem Flugpionier Albrecht Ludwig Berblinger, der vor genau 200 Jahren auf so blamable Weise in die Donau fiel.
Im "Resonanzraum der Revolution", zwischen der politischen von 1789 und der industriellen, erfand in Ulm 150 Jahre avant la lettre ein Schneider den Gleitdrachen und, so schreibt FR-Autor Christian Thomas, stürzte sich damit erfolgreich "die Hänge der Schwäbischen Alb herab, wo, ja, der Wind, der Wind, das himmlische Kind, die physikalischen Gesetze den Vogelmenschen trugen, ohne dass er gewusst hätte, warum". Die Fallwinde über der Donau brachten ihn ganz buchstäblich zu Fall, und deshalb ging der Schneider, so der FR-Autor, in die "Vogelmenschengeschichte" – noch so ein wunderbares Wort – ein als "tragischer Heros" und "obendrein als typischer Antiheld der Moderne".