Von Maximilian Steinbeis

Die Feuilletons gratulieren Thomas Gottschalk zum 60. Geburtstag, befassen sich mit der Finanzkrise und dem Ökumenischen Kirchentag.
„Sie haben die Wahl: Schlucken Sie die blaue Pille, dann bleibt die Welt für Sie so, wie sie immer schien. Nichts wird sich ändern. Nichts muss Sie beunruhigen.“

Oder, so das Ultimatum der „FRANKFURTER ALLGEMEINEN ZEITUNG“, Sie wählen die rote Pille. Was dann passiert? Dann bleiben Sie im Wunderland und erfahren, wie tief das Kaninchenloch wirklich ist.

Da fällt die Wahl nicht schwer, und tatsächlich zeigt uns „FAZ“-Autor Thomas Strobl ein wahres Wunderland voller Grinsekatzen und verrückter Hutmacher, die Welt der Börse nämlich, die man aus dem Fernsehen zu kennen glaubt,

„einem Ort, an dem Menschen die Kontrolle haben, an dem die Kurse auf den Monitoren und tags darauf in den Zeitungsspalten so sind, wie sie sind, weil Männer und Frauen auf dem Parkett sich Angebot und Nachfrage aus dem Leib schreien.“

Das allerdings glaubt nur, wer die blaue Pille wählt. Die rote Pille „zeigt Ihnen, was wirklich geschieht: Elektronische Netze (…) beherrschen die Märkte.“ Räuberische Algorithmen, die in Millisekunden Gewinne realisieren und den Dow Jones kurzzeitig um tausend Punkte abstürzen lassen, ohne dass irgendjemand weiß, warum.

Das klingt eigentlich weniger nach Alice im Wunderland als nach „The Matrix“, oder nicht? So ein Zufall. Die Szene mit der roten und der blauen Pille ist eben diesem Film entnommen, den der „FAZ“-Autor allerdings mit keinem Wort erwähnt. Ein Zitat eines Zitats eines Zitats, das ist als Einstieg sicher sehr elegant. Ein altmodischer Quellenverweis hätte trotzdem nicht geschadet.

Die „FRANKFURTER RUNDSCHAU“ treibt ebenfalls das Gefühl um, dass auf den Finanzmärkten gewaltige Dinge vor sich gehen, und sie nimmt dem soeben zu Ende gegangenen Ökumenischen Kirchentag übel, sich darum nicht genügend gekümmert zu haben.“ In der Tat erstaunlich“ nennt Christian Schlüter „das Schweigen der Kirche zu den drängenden Fragen der Ökonomie“, wie überhaupt der Kirchentag ihm laut Überschrift „kunterbunt und glaubensfroh“ erschien. „Man war nett zueinander. Doch wo bleiben die großen Zumutungen des Glaubens?“ Angesichts der Finanzkrise, so applaudiert der Autor dem Münchner Erzbischof Reinhard Marx, sei „es nicht mit allein sozialkompensatorischer Caritas und etwas Mutter Teresa getan, hier bedarf es des Sachverstands.“

Um Sachverstand geht es auch Johan Schloemann, der mit einem kurzen Einwurf in der „SÜDDEUTSCHEN ZEITUNG“ das Missverständnis gerade rückt, nur Politiker mit Expertenwissen dürften sich zur Finanzkrise äußern.

„Selbst, wenn diese klugen Leute immer mal wieder recht haben sollten, können sie die demokratische Meinungsbildung und Entscheidungsfindung nicht ersetzen. (…) Mehr Kenntnis ist immer gut, gewiss. Und doch wollen wir nicht von Hans-Werner Sinn regiert werden.“

Dass die Finanzkrise wirklich überall ist, wird mit einem erneuten Blick in die „FAZ“ offenbar, wo Dieter Bartetzko die parallelen Bau-Dramen um die Hamburger Elbphilharmonie und die Münchner Konzerthalle im Marstall analysiert. Die „Hauptmisere“, so Bartetzko,

„besteht darin, dass Baukonzerne kommunale Projekte lange als Gans, die goldene Eier legt, sahen, und dass Politiker als Bauherren von Baukultur und -kunst meist nichts anderes als den sogenannten ‚Bilbao-Effekt‘ kannten. Je spektakulärer, desto besser: Nun, da die Finanzkrise alle, vor allem aber die Städte beutelt, wird erschreckend deutlich, dass in solchen Architekturen die Spekulation auf allen Ebenen als Grundübel unserer Gegenwart Gestalt gewinnt.“

Genug von Grundübeln und Hauptmiseren. Thomas Gottschalk wird 60, und die Feuilletonisten des Landes gratulieren. „Kein Clown – ein Held“, ehrt ihn in der „FAZ“ abermals der bienenfleißige Dieter Bartetzko. Der „TAGESSPIEGEL“ nennt ihn liebevoll einen „Kobold des Konsenses“ und bezeichnet „Gottschalk und ‚Wetten Dass‘“ als „eines der größten Stabilitätsversprechen, die dieses Land noch hat.“ Noch nostalgischer feiert die „SÜDDEUTSCHE ZEITUNG“ den blondgelockten Jubilar und seinen „unterschätzten, genialen Humor: einen D-Mark-Humor, der Ausdruck der 80er Jahre ist.“ Stabilitätsversprechen? D-Mark? Da ist sie wieder, die Krise.