Von Maximilian Steinbeis

Die Feuilletonisten der großen Tageszeitungen beschäftigen sich vor allem mit dem Auftakt zur Leipziger Buchmesse und dem Belletristik-Preisträger Wolfgang Herrndorf, der die Auszeichnung nach Meinung der meisten Autoren völlig zurecht erhalten hat. Aber auch die Film- und Fernsehkritik kommt nicht zu kurz.
Liebhaber der Bewegtbildkunst, die sich nach Aufmunterung sehnen, sollten an diesem Tag die FRANKFURTER ALLGEMEINE ZEITUNG aufschlagen: Gleich dreimal gibt es dort Begeisterndes zu lesen.

Matthias Hannemann feiert den „außergewöhnlich spannenden, ebenso rätselhaft wie unterhaltsam erzählten“ dänisch-schwedischen Fünfteiler „Die Brücke“ als „komplexes Fernsehen, dunkel und dicht erzählt“. Karen Krüger hat sich im Kino über „Türkisch für Anfänger“ schlapp gelacht und bekennt, sie habe beim Verlassen des Kinosaals „die Welt, was selten bei Komödien ist, tatsächlich ein klein wenig mit anderen Augen“ gesehen. Den ganz großen Superlativ fährt indessen Andreas Kilb auf, und der gilt der amerikanischen HBO-Produktion „Mildred Pierce“, eine Miniserie über eine verlassene Ehefrau im Kalifornien der 30er Jahre. „Ein amerikanischer Tolstoi, das ist „Mildred Pierce“, greift der F.A.Z.-Filmkritiker ins alleroberste Schubfach literarischer Vergleichsmöglichkeiten. „Es gibt viele anständige und einige große Literaturverfilmungen, und es gibt Serien, die den Rhythmus, den Klang, das Kolorit einer vergangenen Zeit einfangen. Es gibt episches Kino und anekdotisches Fernsehen. Aber es gab noch keinen Film, der beides zugleich und von beidem das Beste war. „Mildred Pierce“ ist dieser Film.“

Jetzt aber schleunigst zur Literatur in ihrer geschriebenen Form, denn schließlich hat in Leipzig die Buchmesse begonnen und die Träger der dazugehörigen Literaturpreise stehen fest. Die FRANKFURTER RUNDSCHAU ist mit Wolfgang Herrndorf als Preisträger in der Belletristiksparte rundum einverstanden. „Einer der längsten, reichsten und spannendsten Amnesie-Slapsticks der Literaturgeschichte“ sei dessen Roman „Sand“, freut sich Ulrich Seidler und empfiehlt die Lektüre mit großem Nachdruck: „Hinterher fühlt sich der Kopf an wie vom Zufall durchgewirbelt und vom Schicksal neu aufgesetzt.“ Die TAZ hatte Herrndorf schon im Voraus als heißen Favoriten identifiziert. Sein Roman „schüttelt einen ziemlich durch“, schreibt Dirk Knipphals, und zwar im Kontrast zu der sonstigen Leipziger Literaturvermarktung als „Wellnessfaktor: Wohlfühlen kann man sich ja auch in der Sauna. Mit Romanen wie dem von Herrndorf kann man dagegen sein Dasein steigern.“

Vielleicht hätte auch Tim Neshitov lieber ins Kino gehen oder Herrndorf lesen sollen, aber stattdessen hat er eine Linguistentagung über Kiezdeutsch besucht – „Ich mach disch Messer, Moruk, ischwörs!“ – und hat sich dabei offenbar fürchterlich gelangweilt. Was die Linguisten tun, werde „kaum wahrgenommen“, schreibt er in der SÜDDEUTSCHEN ZEITUNG,

„weder von kulturell interessierten Menschen, noch von den Einwanderern, noch von den Beamten, die sich mit deren Integration beschäftigen. Das hat seine Gründe“.

Der SZ-Autor verübelt es den Linguisten,

„mit ihrer Forschung lediglich etwas (zu) benennen, was man bereits aus dem Alltag kennt. Das „Isch“ der Kiezbewohner etwa heißt in der Sprachwissenschaft „ch-Koronalisierung“, dann gibt es noch das „stimmhafte B“ und das „fortisierte R“ und das Weglassen von Artikeln. Man kann also diese Sprache phonetisch und syntaxisch ziemlich genau beschreiben und allerlei Muster darin erkennen. Ähnliches kann man aber inzwischen mit der Sprache der Delphine anstellen.“

Wären wir Linguist, würden wir den ungnädigen SZ-Autor daran erinnern, dass es „syntaktisch“ heißt und nicht „syntaxisch“. Und ansonsten achselzuckend weitermachen mit unserer unbeachteten Forschung.

Zuletzt noch ein Blick in die NEUE ZÜRCHER ZEITUNG, wo Samuel Herzog behauptet, eine Ausstellung im New Museum in New York zu rezensieren, stattdessen aber erst einmal über zweieinhalb Spalten davon berichtet, wie er drei Stunden lang beim Immigration Office warten musste und sich währenddessen in eine fesche Polizistin verguckte. Dazu hat ihn offenbar die Ausstellung animiert: Sie trägt den Titel „The Ungovernables“ und zeigt anarchische Kunst aus aller Welt, und anarchisch möchte sich auch der Rezensent fühlen. „Denn“, so schreibt er, „der Widerstand liegt in den kleinsten Gesten, und das Anarchische zeigt sich schon in der Art, wie wir die Augen aufschlagen.“