Von Maximilian Steinbeis

Johannes Thumfart ruft in der "Taz" eine neue Ära in der Kunst aus, nämlich die der "Neuen Ehrlichkeit". Ein Beispiel dafür könnte die amerikanischen Folksängerin Valerie June sein, deren neues Album in der NZZ hochgelobt wird. Ansonsten gibt die Verleihung des Deutschen Filmpreises Anlass zu Kritik am deutschen Filmwesen.
Einmal im Leben muss jeder Feuilletonist, der auf sich hält, eine neue Ära ausrufen. An diesem Freitag ist Johannes Thumfart an der Reihe: In der TAZ ruft er die Epoche der "New Sincerity" aus, der "Neuen Ehrlichkeit": Den New Yorker Schriftsteller Tao Lin, die Künstlerin Miranda July, die Filmemacherin Lena Dunham ruft er als Zeugen dafür auf, sowie die Tatsache, dass es "noch nie so viele Google-Suchanfragen nach New Sincerity" gab "wie im letzten halben Jahr". Ehrlichkeit im Gegensatz wozu? Nicht etwa zu Ironie, nein, das war die nicht mehr so neue "erste New Sincerity-Welle", David Foster Wallace in den 90ern, die Bright Eyes in den Nullerjahren. Für die "jüngste New Sincerity" sei "ein post-, nicht anti-ironischer Ansatz typisch", schreibt der TAZ-Autor, und wenn sie sich abgrenzt, dann gegen "Reality TV" und die "Gratis-Exhibitionisten-Kultur des Internets". Und woran erkennen wir sie? An ihrer schockierenden Simplizität.

"Bei der Neuen Ehrlichkeit geht es dreckig zu, peinlich, grobmotorisch - niemals aber um den Tabubruch. An Dunhams unförmigen Titten zeigt sich das Individuum in seiner existenziellen Tragik zwischen dem Sein und dem Nichts. Am knochigen Hintern Julys das Unbehagen in der Kultur. Die Verballhornung des Körpers, vor allem des eigenen, wird zum ultimativen Einsatz einer unhintergehbaren Wirklichkeit."

Das klingt kompliziert, stimmt aber gar nicht, jedenfalls wenn man der NEUEN ZÜRCHER ZEITUNG glauben kann. Die hebt ebenfalls auf das Sincerity-Thema ab, nämlich anlässlich des neuen Albums der amerikanischen Folksängerin Valerie June:

"Kann gute Musik so einfach sein?"
- fragt NZZ-Rezensent Jonathan Fischer und gibt zur Antwort: Ja, sie kann. "Ein wohlfeiles Gegengift zu all den überzuckerten Casting-Amseln" sei dieses Album, "erfrischend wie eine Prise Meeresluft". Aber new? "Eine Hippie-Wiedergängerin" sei Valerie June, "die zur richtigen Zeit kommt".

"Die fünfziger, sechziger und siebziger Jahre mögen im Pop bereits ihr Comeback feiern. Valerie June aber dreht das Rad ein halbes Jahrhundert zurück."

Und von Verballhornung des Körpers, wie in der TAZ, kann offenbar auch keine Rede sein, zitiert doch der NZZ-Autor den Londoner "Standard" mit dem Satz:

"Sie sieht aus wie ein Supermodel und singt wie eine 100-jährige Blues-Oma"."

Wenn man bei der Verleihung des Deutschen Filmpreises eines nicht erwartet, dann "Sincerity". In der WELT regt sich Hanns-Georg Rodek unter der Überschrift "So schafft sich die Lola bald selber ab" darüber auf, dass der definitiv un-sincere Megaeventfilm "Cloud Atlas" als bester Film nominiert ist, obwohl an dem doch nichts sei, "was an einen deutschen Film denken ließe".

In der TAZ empfindet Christina Nord den "frommen Wunsch", jemand könnte "mal den Teufel daran hindern, auf den größten Haufen zu kacken". Gegen die Nominierungen, so die TAZ-Kritikerin, gebe es "nicht viel einzuwenden, es sei denn, man zieht zum Vergleich heran, was jemand wie Werner Herzog dreht. Und dann fällt auf, dass sich im deutschen Kino das Mittelmaß noch immer gegen die Exzentrik durchsetzt."

Doch wer die BERLINER ZEITUNG aufschlägt, der sieht, dass die New-Sincerity-Ära in Wahrheit längst auch bei der Goldenen Lola Einzug gehalten hat. Denn einer der ebenfalls, und zwar gleich achtfach Nominierten ist der Berlin-Schwarz-Weiß-Film "Oh Boy", dessen Autor und Regisseur Jan-Ole Gerstner sich im Interview mit der BERLINER ZEITUNG von seiner sinceresten Seite zeigt:

"Diese stillen, passiven Typen haben mich schon immer fasziniert, Figuren, die zwar passiv sind, aber dafür hellwach."

Zuletzt darf der schon erwähnte Werner Herzog nicht fehlen, der bei der Filmpreisverleihung für sein Lebenswerk geehrt werden soll und im Interview mit dem TAGESSPIEGEL ebenfalls seinen ganz speziellen Beitrag zur New Sincerity leistet: "Als Privatperson ist man natürlich nicht identisch mit dem, was man auf der Leinwand macht", antwortet er auf die Frage nach seinen Rollen als Schauspieler.

"Das ist ja das Schöne am Kino. Ich habe schon einige große Filmrollen gespielt, aber wirklich gut bin ich nur, wenn ich feindselig, dysfunktional und gemeingefährlich sein darf."