Von Maximilian Steinbeis

Die "Welt" will belegen, dass Jakob Augstein Antisemit ist, die "tageszeitung" knöpft sich Augsteins journalistische Verteidiger vor, die Süddeutsche schreibt über Heuchelei bei Kinderbüchern und die FAZ widmet sich dem Film "Das Große Fressen".
"Man denke nicht zu schlecht von der Heuchelei."

Das ist ein bemerkenswertes Bekenntnis aus dem Munde eines Feuilletonisten, denn - so fragt sich der Leser - wozu braucht man ein Feuilleton, wenn nicht dazu, einem mit Witz und Spiritus die Fettschicht der Heuchelei von der eigenen Brille zu wienern? Dass Burkhard Müller in der SÜDDEUTSCHEN ZEITUNG so milde über die Heuchelei urteilt, hat wohl mit seinem Thema zu tun: Müssen Klassiker der Kinderliteratur von rassistischen Wörtern wie "Neger" oder "Zigeuner" gereinigt werden?

Jawoll, meint der SZ-Autor zunächst und reitet in forschestem Husarengalopp alle, die auf Pippi Langstrumpfs Negerkönig-Papa nicht verzichten wollen, über den Haufen, nennt ihr Geschichtsbild "naiv" und zeiht sie eines "reaktionären Infantilismus".

Doch herrje, "auch der Befürworter der Abänderung, die den Negerkönig um jeden Preis durch einen Südseekönig ersetzen wollen, als wäre damit etwas Entscheidendes geschehen", wird der SZ-Autor "nicht recht froh": Wahrscheinlich, so Burkhard Müller, "ist nach Preußlers "Kleiner Hexe" als Nächstes sein Räuber Hotzenplotz" dran, in dem man, statt des unverbesserlichen Kriminellen, den Mitbürger erkennen wird, der mit dem Eigentumsrecht in Konflikt geraten ist". In dieser Situation findet er plötzlich Heuchelei ganz gut, und wir wollen es ihm nicht verübeln.

In der TAZ wiederum plagt sich der Schriftsteller Jakob Hein mit dem gleichen Thema herum und kommt zu dem redlichen Ergebnis, dass es auf die Absicht des Autors ankomme und daher ein Eingriff dann am Platze sei, wenn derselbe und seine Bücher nicht "im Verdacht des Rassismus stehen".

Womit wir schon fast bei Jakob Augstein wären, dem Journalisten und Verleger, der sich zurzeit gegen den Vorwurf zur Wehr setzen muss, mit seiner harten Israel-Kritik die Grenze des Antisemitismus überschritten zu haben. Nachdem in den letzten Tagen eine Flutwelle journalistischer Solidaritätsadressen und Exkulpationsschriften die Feuilletons gefüllt hatte, verlangt die Skandaldramaturgie jetzt eine Gegenwelle, und auf der surft virtuos Matthias Künzel, der in der WELT fast eine ganze Seite mit Zitaten Augsteins vollschreibt zum Beleg von dessen Absichten: "Dass ein antisemitisch angehauchter Anti-Israelismus in der deutschen Bevölkerung mehrheitsfähig ist, ist durch zahllose Umfragen bewiesen. Bisher existiert jedoch zwischen diesem Massenbewusstsein und der historisch begründeten Israel-Haltung der deutschen Eliten eine sorgsam gehütete Kluft. Jakob Augstein möchte diese Kluft so schnell wie möglich schließen."

Weniger Zeilen braucht in der TAZ Deniz Yücel, der sich vor allem Augsteins journalistische Verteidiger vorknöpft: "Den letzten lebenden Antisemiten, das kann man als Zwischenfazit der Debatte um Jakob Augstein festhalten, haben deutsche Journalisten um 1960 in Jerusalem gesichtet. Seither gilt: Hierzulande gibt es zwar, wie alle wissen und schlümm finden, Antisemitismus, es gibt aber keine Antisemiten." Die "Geschlossenheit", mit der Augsteins Kollegen ihn verteidigen, kann sich der TAZ-Autor nur "mit Standesdünkel" erklären. "Journalisten, insbesondere die Leitartikler unter ihnen, halten es für ihr edles Vorrecht, an allem herumzumäkeln, reagieren aber patzig, wenn ihr eigenes Tun in die Kritik gerät."

Nach so viel Attacke und Gegenattacke empfehlen wir dem Leser einen Blick in die FRANKFURTER ALLGEMEINE ZEITUNG. Dort wartet nämlich ein Text des Soziologen Daniel Kofahl auf ihn, über den Film "Das Große Fressen", vor 40 Jahren in Cannes uraufgeführt und mittlerweile derart kanonisiert, dass sich die Kulturwissenschaftler über seine Botschaft streiten. Für die einen ist der Film über vier Männer, die sich buchstäblich zu Tode fressen, eine "Analogie zur demonstrativen Verschwendungskultur der Überflussgesellschaft", für die anderen "eine Aufforderung zum unbedingten passionierten Genuss". Und der FAZ-Autor? Der ist zufrieden damit, "die Vielfalt der Perspektiven, die uns dieses Werk wie auch andere Filme des kulinarischen Kinos bieten, zu erkennen und mit ihnen die komplexen, nicht selten auch moralisch zu simplifiziert geführten Diskurse über die Ernährung der Menschen zu bereichern und zu reflektieren."

Mit anderen Worten: Erlaubt ist, was Appetit macht. Oder mit noch anderen Worten: Man denke nicht zu schlecht über die Heuchelei.