Von manischen Männern
Zehn archetypische Schweizer Fabrikanten des 19. Jahrhunderts porträtiert der Autor Alex Capus. Darunter finden sich die Erfolgsgeschichten des Apothekers Henri Nestlé oder des Müllers Julius Maggi. Capus erzählt dabei weniger von Firmen als von manischen Männern. Die ersten Seiten jedes Porträts lesen sich wie Anfänge zu ungeschriebenen Romanen. Und man lernt bei der Lektüre eine Menge über die schweizerisch-europäische Wirtschaftsgeschichte.
Von Männern, die Geschichte machen, ist seit je viel zu lesen, auch von Entdeckern und Forschern, genialen Künstlern und Komponisten. Aber was ist mit jenen, deren Bestimmung darin bestand, zum Beispiel den Schmelzkäse zu erfinden? Die ihren Schaffendrang auf die Schöpfung des Damenstrumpfes ohne Laufmasche richteten? Von ihnen wissen wir meist wenig.
Wie kam der Apotheker Henri Nestlé dazu, in Zeiten einer katastrophalen Kindersterblichkeit seine Säuglingsnahrung zu erfinden, und wie wurde daraus der größte aller Lebensmittelkonzerne? Was bewog den Hosenträgerfabrikanten Carl Franz Bally, in ländlicher Abgeschiedenheit die erste und größte Schuhfabrik der Welt zu gründen? Weshalb erfand der Müller Julius Maggi den Suppenwürfel? Und wie gelang es Fritz Hoffmann-La Roche, der um jeden Preis ein großer Unternehmer sein wollte, auf einem wirkungslosen, aber äußerst wohlschmeckenden Hustensaft ein Arznei-Imperium zu gründen?
In diesem Buch erfahren wir es. Alex Capus porträtiert zehn archetypische Schweizer Fabrikanten des 19. Jahrhunderts, die "Flaggschiffe der heutigen Ökonomie vom Stapel ließen". "Patriarchen" heißt das Buch, denn die Gründerzeit war eine patriarchalische Epoche, auch wenn Frauen in einigen der Firmengeschichten eine wichtige Rolle zukommt – als gutbürgerliche Braut mit opulenter Mitgift, die zum Startkapital wurde, wie beim Kraftwerksbauer Walter Boveri.
Alex Capus ist ein Autor, der sich auf die Kunst der Recherche versteht. Die besten seiner meist schmalen Romane wie die Kriminalgeschichte "Fast ein bißchen Frühling" basieren auf sicherem Fakten-Fundament. Es ist ein halbdokumentarisches, wirklichkeitsgesättigtes Erzählen, das allerdings durch seinen zugleich temperamentvoll-frischen und gediegen-altmodischen Duktus keinen Zweifel am literarischen Charakter lässt. Auch in den Unternehmerporträts mutet das Faktische oft fiktiv an – solche Erfolgsgeschichten haben ja etwas durchaus Phantastisches.
Capus sucht nach dem besonderen Augenblick, in dem sich eine unternehmerische Idee kristallisiert, und er schildert die historisch-ökonomischen Umstände, unter denen die Verwirklichung gelingen konnte. Man lernt eine Menge über die schweizerisch-europäische Wirtschaftsgeschichte bei der Lektüre. Auch wenn gelegentliche Skandale und Katastrophen in den Firmengeschichten nicht verschwiegen werden (Seveso etwa), ist Capus’ Darstellung der Fabrikanten allerdings keineswegs auf Kapitalismuskritik gestimmt, sondern lässt an vielen Stellen Bewunderung für das Gründer-Genie und den unternehmerischen Wagemut durchblicken. Eine Sichtweise, die nach den Jahren, in denen Unternehmer vielfach einseitig als Ausbeuter oder Steuersünder begriffen wurden, ihre Berechtigung hat.
Von heutigen überbezahlten Managern unterscheiden sich die "Patriarchen" durch die Selfmade-Mentalität und ihre Aufopferung für eine zukunftsträchtige Idee. Denn auffallend ist, dass sich die meisten der Gründer über ihrer Lebensaufgabe früh verschlissen haben – tagsüber im Büro und nachts in der Tüftelbude. Die meisten starben vor der Zeit und konnten den Aufstieg ihrer Firmen zu Wirtschaftsimperien selbst nicht mehr erleben.
Ein Sachbuch? Nur halb. Denn der erzählerische Stil von Capus macht sich auch hier geltend. Die ersten zwei Seiten jedes Porträts lesen sich wie Anfänge zu ungeschriebenen Romanen, etwa in der Geschichte des Walter Gerber, der Erfinder des Schmelzkäses wurde aus der Not, leicht verderblichen Emmentaler in alle Welt zu exportieren. Ein Kabinettstück ist die Skizze über die Schweiz als grimmiger, protestantischer Gottesstaat im 18. Jahrhundert, die dem Lebensbild des Bank-Gründers Johann Jacob Leu voransteht. Vor allem aber erzählt Capus weniger von Firmen als von manischen Männern – viele sachliche Details werden dann in einem ausführlichen chronologischen Anhang zu jedem Kapitel nachgeliefert, der die jeweilige Firmengeschichte bis in die Gegenwart nachzeichnet.
Seit je hat Alex Capus kein Problem damit, erzählerische Kniffe und Mittel anzuwenden, die man schon bei Hebbel oder in Kellers Seldwyla-Geschichten findet. Das werten manche Kritiker als poetologische Rückständigkeit; man kann es auch ganz charmant finden. Aber es stimmt schon: Capus’ Stil ist eher am 19. als am 20. Jahrhundert geschult und passt deshalb besonders gut zu diesen Geschichten aus der Patriarchenzeit.
Leben wir womöglich in einer neuen Gründer-Epoche, in der aus kühnen Ideen große Firmen werden können? Capus überlässt diese Frage der Zukunft. Sicher weiß er nur: gute Geschichten müssen vergangen sein.
Rezensiert von Wolfgang Schneider
Alex Capus: Patriarchen. Zehn Porträts.
Knaus Verlag 2006, 191 S., 14,95 Euro
Wie kam der Apotheker Henri Nestlé dazu, in Zeiten einer katastrophalen Kindersterblichkeit seine Säuglingsnahrung zu erfinden, und wie wurde daraus der größte aller Lebensmittelkonzerne? Was bewog den Hosenträgerfabrikanten Carl Franz Bally, in ländlicher Abgeschiedenheit die erste und größte Schuhfabrik der Welt zu gründen? Weshalb erfand der Müller Julius Maggi den Suppenwürfel? Und wie gelang es Fritz Hoffmann-La Roche, der um jeden Preis ein großer Unternehmer sein wollte, auf einem wirkungslosen, aber äußerst wohlschmeckenden Hustensaft ein Arznei-Imperium zu gründen?
In diesem Buch erfahren wir es. Alex Capus porträtiert zehn archetypische Schweizer Fabrikanten des 19. Jahrhunderts, die "Flaggschiffe der heutigen Ökonomie vom Stapel ließen". "Patriarchen" heißt das Buch, denn die Gründerzeit war eine patriarchalische Epoche, auch wenn Frauen in einigen der Firmengeschichten eine wichtige Rolle zukommt – als gutbürgerliche Braut mit opulenter Mitgift, die zum Startkapital wurde, wie beim Kraftwerksbauer Walter Boveri.
Alex Capus ist ein Autor, der sich auf die Kunst der Recherche versteht. Die besten seiner meist schmalen Romane wie die Kriminalgeschichte "Fast ein bißchen Frühling" basieren auf sicherem Fakten-Fundament. Es ist ein halbdokumentarisches, wirklichkeitsgesättigtes Erzählen, das allerdings durch seinen zugleich temperamentvoll-frischen und gediegen-altmodischen Duktus keinen Zweifel am literarischen Charakter lässt. Auch in den Unternehmerporträts mutet das Faktische oft fiktiv an – solche Erfolgsgeschichten haben ja etwas durchaus Phantastisches.
Capus sucht nach dem besonderen Augenblick, in dem sich eine unternehmerische Idee kristallisiert, und er schildert die historisch-ökonomischen Umstände, unter denen die Verwirklichung gelingen konnte. Man lernt eine Menge über die schweizerisch-europäische Wirtschaftsgeschichte bei der Lektüre. Auch wenn gelegentliche Skandale und Katastrophen in den Firmengeschichten nicht verschwiegen werden (Seveso etwa), ist Capus’ Darstellung der Fabrikanten allerdings keineswegs auf Kapitalismuskritik gestimmt, sondern lässt an vielen Stellen Bewunderung für das Gründer-Genie und den unternehmerischen Wagemut durchblicken. Eine Sichtweise, die nach den Jahren, in denen Unternehmer vielfach einseitig als Ausbeuter oder Steuersünder begriffen wurden, ihre Berechtigung hat.
Von heutigen überbezahlten Managern unterscheiden sich die "Patriarchen" durch die Selfmade-Mentalität und ihre Aufopferung für eine zukunftsträchtige Idee. Denn auffallend ist, dass sich die meisten der Gründer über ihrer Lebensaufgabe früh verschlissen haben – tagsüber im Büro und nachts in der Tüftelbude. Die meisten starben vor der Zeit und konnten den Aufstieg ihrer Firmen zu Wirtschaftsimperien selbst nicht mehr erleben.
Ein Sachbuch? Nur halb. Denn der erzählerische Stil von Capus macht sich auch hier geltend. Die ersten zwei Seiten jedes Porträts lesen sich wie Anfänge zu ungeschriebenen Romanen, etwa in der Geschichte des Walter Gerber, der Erfinder des Schmelzkäses wurde aus der Not, leicht verderblichen Emmentaler in alle Welt zu exportieren. Ein Kabinettstück ist die Skizze über die Schweiz als grimmiger, protestantischer Gottesstaat im 18. Jahrhundert, die dem Lebensbild des Bank-Gründers Johann Jacob Leu voransteht. Vor allem aber erzählt Capus weniger von Firmen als von manischen Männern – viele sachliche Details werden dann in einem ausführlichen chronologischen Anhang zu jedem Kapitel nachgeliefert, der die jeweilige Firmengeschichte bis in die Gegenwart nachzeichnet.
Seit je hat Alex Capus kein Problem damit, erzählerische Kniffe und Mittel anzuwenden, die man schon bei Hebbel oder in Kellers Seldwyla-Geschichten findet. Das werten manche Kritiker als poetologische Rückständigkeit; man kann es auch ganz charmant finden. Aber es stimmt schon: Capus’ Stil ist eher am 19. als am 20. Jahrhundert geschult und passt deshalb besonders gut zu diesen Geschichten aus der Patriarchenzeit.
Leben wir womöglich in einer neuen Gründer-Epoche, in der aus kühnen Ideen große Firmen werden können? Capus überlässt diese Frage der Zukunft. Sicher weiß er nur: gute Geschichten müssen vergangen sein.
Rezensiert von Wolfgang Schneider
Alex Capus: Patriarchen. Zehn Porträts.
Knaus Verlag 2006, 191 S., 14,95 Euro