Von Liebe, Rache und Tod

30.05.2008
Geheimnisvolle Todesfälle in Buenos Aires sind Anlass für die Wiederbegegnung zwischen einem Schriftsteller und einer ehemals schönen Frau. Doch Guillermo Martínez' Roman "Der langsame Tod der Luciana B." ist keine schlichte Kriminal- und Liebesgeschichte, sondern entwickelt sich zu einem Essay über Phantasie und Schuld.
Buenos Aires, der Moloch am Silberfluß, scheint günstiger Nährboden für eine besondere Art Belletristik: wild und phantastisch wie die Stadt, wobei das Phantastische, das bedrückend Wunderbare unmerklich aus dem Alltäglichen wächst. Eigensinnige Autoren haben die Art Literatur zu einem Markenzeichen der Metropole werden lassen: Borges, Cortázar und Bioy Casares, Roberto Arlt, César Aira, Ricardo Piglia...

Guillermo Martínez, geboren 1962, seit 1985 in Buenos Aires daheim, wandelt in ihren Spuren. Der Mann ist promovierter Mathematiker, sein Debüt als Romancier verriet noch die frühe Profession. In "Die Pythagoras-Morde" berichtete Martínez von seltsam logischen Verbrechen im Oxforder Mathematikermilieu. Das Buch war 2003 wochenlang der Bestseller in Argentinien, es erhielt den spanischen "Premio Planeta".

An den Anfang seines zweiten Romans stellt Martínez ein Motto aus Casanovas "Erinnerungen", eine These, die der Wissenschaftler als Dichter zu beweisen sucht:

"In der Physik folgt auf jeden Stoß ein Gegenstoß, aber im Moralischen ist die Reaktion noch stärker. Die Reaktion auf den Betrug ist die Verachtung, die Reaktion auf die Verachtung ist der Haß, und der Haß führt zum Mord."

Kulisse der Handlung ist die unerschöpfliche und gewalttätige Stadt am Río de la Plata. Der Hintergrund: eine Reihe geheimnisvoller Todesfälle.

Es gibt drei Hauptfiguren – eine wahnhaft wirkende Frau namens Luciana, einen gefeierten Krimi-Autor, Kloster genannt, und den Ich-Erzähler ohne Namen. Auch er ist Schriftsteller, aber lange nicht so populär wie der beneidete Rivale. Einst, vor etlichen Jahren, war Luciana eine schlanke Schönheit, typisches Produkt der argentinischen Mittelklasse, eine Biologie-Studentin, die als Sekretärin Geld verdiente. Sie tippte damals für Kloster, einmal (ein paar Wochen lang) auch für den Erzähler.

Die Schreiber diktierten der Schönen ihre Romane. Beide erlagen ihrem Reiz, beide wurden erst angelockt und dann zurückgestoßen. Der Ich-Erzähler verlor die junge Dame rasch aus den Augen. Zehn Jahre später – so beginnt das Buch – reißt Lucianas Stimme den Erzähler aus dem Schlaf; ein Anruf zur Nacht, ein Hilfeschrei, und kurz darauf ein Wiedersehen, das den armen Mann schockiert. Er trifft eine aufgeschwemmte Frau mit schütterem Haar. Ein Wrack.

Luciana erzählt. Wie Kloster, ihr Arbeitgeber, sie in jener weit zurückliegenden Zeit einmal zu küssen versuchte, ein einziges Mal, vor dem PC, und sie ihn wegen "sexueller Belästigung" vor Gericht zerrte. Wie Klosters Existenz darüber zerbrochen sei – die Ehe geschieden, die Tochter in der Badewanne ertrunken, vielleicht von der Mutter getötet. Wie Kloster sich an der jungen L. gerächt habe, der Krimi-Experte, perfekt und perfide.

Erst starb Lucianas Freund (ein Rettungsschwimmer, ertrunken im Meer, der Morgenkaffee war wohl kontaminiert), dann starben ihre Eltern (Pilzvergiftung) und der Bruder, ein Arzt (bestialisch ermordet bei einem Raubüberfall). Luciana fürchtet weitere Tode; sie drängt den Erzähler, er möge helfen, möge sie retten.

Und der Erzähler lässt sich überreden. Er fährt zu Kloster, auf ein Gespräch, und siehe, der Rivale hat gleich mehrere Erklärungen für die Kette des Verderbens. Vielleicht war alles Zufall, Unglück, von Luciana nur böswillig interpretiert? Oder hat Luciana die Verwandten ermordet, aus unerlöster Sühne, Auge um Auge, weil sie sich schuldig fühlt am Tod von Klosters Tochter?

Oder, Variante drei: Ein höheres Wesen beging die Taten, der Genius des Schaffenden (Henry James berichtete von einem solchen Wesen, auch Thomas Mann), ein Nebelding, mal guter Geist und mal Dämon. Er habe, sagt Kloster, deutlich gespürt, wie ihm der Genius bei einem Krimi die Hand geführt. Und kaum seien die Verbrechen auf dem Papier gewesen, hätten sie sich auch real ereignet, in kreativ gewandelter Form, schlichter, archaischer, brutaler. Am Anfang ist die Geschichte wohlfeil und klar, am Ende stehen die Fragen...

Das Buch hat Schwächen, man spürt sie, wenn man die Story zu fassen sucht. Es gibt Willkür in der Konstruktion, die Stränge der Erzählung verknoten sich bisweilen. Es wird viel dramatisiert, "tragisch" ist ein Kernbegriff. Die Berichte von Luciana und Kloster, ausufernde Monologe, spiegeln nicht gesprochene Sprache, sondern stur Dichters Diktion. Die Fäden zwischen den Protagonisten wirken allzu straff.

Warum engagiert sich der Ich-Erzähler für die verwirrte, verkommene, mal jammernde und mal drohende Luciana? Warum sollte Kloster, dieser dichtende Popstar, ein einsamer Wolf, gegenüber dem Erzähler/Ermittler so redselig sein? Und eine göttliche Macht als schöpferischer Mörder und Rächer will am Ende nicht überzeugen.

Andererseits: Der Autor sorgt für Spannung, von der buchstäblich ersten bis zur letzten Seite. Er überrascht, schockiert, verblüfft, immer wieder ändert er den Blickwinkel. Der schlichte Kriminalroman (Wer war's?) wandelt sich zum Dialog über die Grenzen unserer Wahrnehmung, zu einem Essay in zwei Stimmen über Phantasie und Schuld. Das Kausalitätsprinzip, plötzlich gilt es nicht mehr. Wahrscheinliches wird trügerisch, Beweisbares suspekt: Willkommen daheim, im Spiegelkabinett argentinischer Literatur; für einen Moment erscheint Guillermo Martínez tatsächlich als Erbe der Idole.

Rezensiert von Uwe Stolzmann

Guillermo Martínez: Der langsame Tod der Luciana B.
Aus dem Spanischen von Angelica Ammar
Eichborn Verlag, Frankfurt/Main 2008
208 Seiten, 17,95 Euro