Von Leipzig nach Atlanta

Von Konrad Lindner |
Der Mediziner Andreas Grüntzig revolutionierte die Kardiologie: Mit einem Ballon erweiterte er verstopfte Herzkranzgefäße. So konnte auf aufwändige Operationen verzichtet werden. Grüntzig starb bei einem mysteriösen Flugzeugunfall.
Johannes Grüntzig: "Sie sehen hier im Hintergrund die Bilder der Trauergemeinde, also der unendlichen Reihe von Trauernden. Dann Bilder von der Absturzstelle mit den zerschmetterten Teilen des Flugzeuges. Räder. Dann wieder die Reporterin vor der Kirche, wo in einer endlosen Reihe Autos und Trauernde defilieren. Margaret Ann hat dort als Ärztin gearbeitet im Emory Hospital. Und Andreas war der Pionier in der Kardiologie. Dann noch einmal ein Bild auf die Trauergemeinde. Die vielen Autos. Und den Hinweis, dass es einen Fond gibt, der zu Spenden aufruft für zu fördernde Forscher auf dem Gebiet der Kardiologie."

Johannes Grüntzig, der Ältere der Grüntzig-Brüder, ist nach fast 25 Jahren noch immer betroffen, wenn er sich den amerikanischen Fernsehbericht über das Unglück seiner Bruders anschaut – des Pioniers in der Kardiologie.

"Mein Bruder hatte den ersten Schritt dazu in den peripheren Gefäßen getan, dort die Ballondilation eingesetzt, die Erweiterung von Gefäßen. Das wurde von den Kollegen überhaupt nicht weiter, obwohl das ein großer Fortschritt bei der Behandlung dieser Schaufensterkrankheit war, wurde überhaupt nicht stimuliert oder estimiert. Ein anderer wäre jetzt sauer gewesen. Aber Andreas störte das nicht. Er ist einfach weiter gegangen. So muss man sagen, dass dieser - wenn Sie so wollen - Welterfolg, für den Patienten war das was ganz Sensationelles, der hat mehr noch als jeder Andere etwas von der Begeisterung weiter geben wollen, durfte es aber nicht, aber das Umfeld, das medizinische Umfeld, war eigentlich eher geprägt durch Eifersucht und vielleicht auch etwas von Neid, dass da ein junger Kollege plötzlich die Medizin revolutionierte. Denn von einem Tag auf den andern war theoretisch das möglich, dass man ohne große Operation Patienten helfen konnte."

Andreas Grüntzig: "Der ganze Aufwand des Verfahrens, das ist ein großer Vorteil, ist sehr gering ..."

Eine Aufzeichnung des Schweizer Fernsehens vom Februar 1978: Der 38-jährige Mediziner Andreas Grüntzig stellt das bislang unbekannte Verfahren der Öffentlichkeit vor.

Weiter Andreas Grüntzig: "Der ganze Aufwand des Verfahrens, das ist ein großer Vorteil, ist sehr gering. Sie sehen das gesamte Instrumentarium hier auf diesem Tisch. Es sind einige Druckanschlüsse. Und es ist diese kleine Druckspritze, mit der man dann den Dilatationsballon unter Druck setzen kann. Befindet sich nun der Katheter in der Stenose selbst, dann kann man durch einen einfachen Druck auf ein Fußpedal diesen Ballon an der Spitze - Sie sehen das jetzt, ich mache das gerade – aufdehnen und dieser Ballon nun nimmt seine vorgeformte wurstförmige Gestalt an und presst dabei die Einengung auf."

Mit einem Ballonkatheter schnell und ohne Operation helfen. Das ist ein Segen für die Patienten und eine Revolution in der Medizin. Andreas Grüntzig hat die Balondilatation vorher an den sogenannten peripheren Gefäßen erprobt, an Beinen zum Beispiel. Am 16. September 1977 dann die Weltpremiere: Dölf Bachmann ist der erste Mensch, an dem ein verschlossenes Herzkranzgefäß mit einem winzigen Ballon geöffnet wird. Noch heute erinnert er sich genau an die erste Begegnung mit Andreas Grüntzig.

"Ich wurde vom Kantonsspital Baden nach Zürich gebracht. Mit dem Befund, dass eine Bypassoperation dringend nötig wäre. Als ich in das Zimmer geführt wurde, waren da andere Patienten. Frisch operierte. Da kam einer zu mir und hat gesagt: Ja, siehst Du, morgen hast Du dann auch so einen Reißverschluss. Er hat mir seine große Narbe über die ganze Brust gezeigt. Und da war ich eigentlich sehr schockiert. Da habe ich wirklich Angst bekommen. Habe gedacht, das ist ja eine fürchterliche Operation.

Am Abend desselben Tages kam ein junger Arzt und hat sich vorgestellt als Doktor Andreas Grüntzig und er möchte mir etwas erklären. Dann hat er mir die ganze Methode skizziert und mich gefragt, ob ich bereit wäre, da mitzuwirken. Er hat mir ausdrücklich erklärt, dass ich der erste Patient sei weltweit. Er habe bereits Tierversuche gemacht. Sie seien bestens gelungen und er könne mir versichern, dass das Risiko relativ klein sei und gleichzeitig, dass das Operationsteam bereit stehe. Falls irgendetwas nicht gelingen sollte, würde ich die geplante Bypassoperation verpasst bekommen."

Andreas Grüntzig wird am 25. Juni 1939 in Dresden geboren, wenige Wochen vor Beginn des Zweiten Weltkrieges, der auch diese Stadt am Ende zerstören wird.

Johannes Grüntzig: "Für mich, der ich als erster auf die Welt gekommen war, ich war, wenn Sie so wollen, der Erstgeborene. Für mich war es eine große Freude, einen Bruder zu haben. Das heißt also, wenn man klein war, hatte man einen Spielkameraden. Man hatte jemanden, mit dem man spielen konnte. Dieses Verhältnis hat der Jüngere nicht. Ich war ja schon da. Und Andreas hatte einen anderen Zugriff zur Welt. Mein Mutter hat immer das Bild gewählt, während ich eben sehr zögerlich an die Brust der Mutter ging und mehr meine Ressentiments hatte, Andreas direkt sofort drauf! Zack! Sie hat gesagt, das war der Andreas! Er hatte den Spitznamen von den Eltern bekommen: Klingeling Andreseli. Das heißt also, er ist schon als ganz kleiner Junge: Er lachte immer. Wenn man Fotos von ihm auch sieht, so klein wie er war, er guckte aufmerksam in die Welt und hatte sofort immer ein Lachen auf dem Mund.

Als der Krieg ausbrach. Wir waren ja in Dresden. Und er war Rektor in Dresden, sagte mein Vater auf Grund der Erfahrung, die er hatte von dem Ersten Weltkrieg auch: Es ist für eine Familie kaum möglich, eine Großstadt wie Dresden zu überleben! Und deshalb muss ich sagen, hat er, obwohl, er war ja Rektor in Dresden, hat er auf diese Position verzichtet, um dann an einer Oberschule in Rochlitz, Rochlitz ist etwa 100 Kilometer von Dresden entfernt, eine idyllische Kleinstadt wenn man so will, an der Mulde. So sind wir 1940 schon umgesiedelt von Dresden in diese Kleinstadt Rochlitz an der Mulde."

Der Vater kommt in den letzten Kriegstagen um. Die Mutter muss sich mit ihren beiden Söhnen allein durchschlagen.

Johannes Grüntzig: "Die Mutter hatte einen ganz einfachen Satz, den sie dafür immer einsetzte. Sie sagte, alle guten Eigenschaften habt ihr vom Vater. Die schlechten habt ihr von mir. Mein Vater hat ja auch eine Reihe von Büchern publiziert und zwar auf chemischem Gebiet und auf biologischem Gebiet ist eine Buchreihe nicht publiziert worden, weil der Co-Autor zu den Sozialisten gehörte. Es stellte sich dann später heraus, dass er Zugehöriger früher war der Sozialdemokratischen Partei. Und sie erwähnte ihn dann immer wieder auch als Vorbild. Zum Beispiel eine Sache, über die man lachen kann: Mein Vater sprach ja auch hebräisch und konnte auch griechisch und er konnte arabisch. Und dann sagte sie auch immer wieder: Wisst Ihr, Euer Vater, der war so klug, der konnte den Koran sogar von hinten lesen! Was natürlich völlig normal eigentlich war. Aber für uns Kinder war das natürlich beeindruckend."

Die Grundschule besucht Andreas Grüntzig in Leipzig. Die kleine Familie ist von Rochlitz in die Stadt gezogen, weil die Großmutter hier lebt. Irene Roch-Lemmer aus Halle kennt Andreas Grüntzig seit der Schulzeit. Die promovierte Kunsthistorikerin wohnte als Kind in der gleichen Straße, in der auch die Familie Grüntzig zu Hause war: In der Paul-Küstner-Straße im Leipziger Stadtteil Lindenau. Sie ging mit Andreas Grüntzig zusammen in die Grundschule und später in die traditionsreiche Thomas-Oberschule. In einer amerikanischen Biografie über Andreas Grüntzig, die in ihrem Bücherregal steht, wird auf das besondere Schicksal ihrer Generation angespielt.

"Das ist dieses englischsprachige Buch, die Reise in das Herz, da steht auf dem Klappentext, dass Andreas Grüntzig ein 'East German child of the rubble' gewesen ist. Und wir haben überlegt: Was bedeutet das? Was soll damit gesagt werden? Also ein Kind der Ruinen, des Schutts. Also es ist wohl gemeint ein: Nachkriegskind. Das trifft insofern auch genau zu, weil wir 1945 im Oktober, am 3. Oktober in die Schule gekommen sind. Als erste Generation nach dem Krieg.

Ich habe noch einen alten Zeitungsartikel gefunden, in dem berichtet wird über unsere Schulabgangsfeier am 5. Juli 1953. Diese Feier fand im Operettentheater in Leipzig statt. In Leipzig Lindenau. Da sprach sogar der Oberbürgermeister Erich Uhlig. Der Bericht über die Feier ist in einer damals eben üblichen politisierten Sprache verfasst. Interessant sind zwei Fotos, die dem Beitrag bei gefügt sind. Das eine Foto zeigt Andreas Grüntzig, der ausgezeichnet wird, und er ist also hier schon – wie man sagen könnte – ein kleiner Medienstar im weißen Anzug ganz festlich zu dieser Schuljahresfeier."

Johannes und Andreas Grüntzig können beide die traditionsreiche Thomas-Schule besuchen und dort ihr Abitur machen. Sie sind keine Thomaner, aber sie sind in Leipzig immerhin Thomas-Schüler.

Irene Roch-Lemmer: "Abitur haben wir 1957 gemacht. Im Sommer 1957 ist etwa die Hälfte unserer Klasse nach dem Westen gegangen. Dazu gehörte eben auch Andreas Grüntzig. Sein Bruder hatte ein Jahr vorher auch an der Thomas-Schule Abitur gemacht und war schon nach Heidelberg gegangen und er ist dann seinem Bruder gefolgt."

Johannes Grüntzig: " "Ich kann nur sagen, als wir unsere Abiturfeier hatten, anschließend, traf ich mich auf der Straße zufälligerweise noch mit einigen Klassenkameraden. Das waren beide Söhne von Ärzten. Zu dieser damaligen Zeit gab es spezielle Verträge zwischen der Intelligenz, also den Ärzten, und der Regierung. Diese Eltern verpflichteten sich, nicht zu flüchten, dafür garantierte ihnen der Staat, dass die Kinder studieren durften, obwohl sie nicht zu den Arbeitern und Bauern gehörten. Das waren zwei von denen, die durch die Eltern sicher waren, dass sie studieren durften. Aber ich wusste, dass ich eben keine Chance hatte. Und mehr aus einem Anflug von jugendlicher Überheblichkeit sagte ich dann so leichtfertig zu denen: Ja gut, also dann auf Wiedersehen, dann sehen wir uns zum Studium in Heidelberg! Dann lachten alle und sagten: Ja, ja, natürlich, in Heidelberg!"

Irene Roch-Lemmer: "Und da habe ich ihn im Sommer 1957 auch mal besucht. Als er gerade erst nach Heidelberg gekommen war. Dort im Internat lebte. Mit seinem Bruder. Es war damals so, dass diejenigen, die aus dem Osten kamen, das Abitur innerhalb eines Jahres wiederholen mussten. Da waren sie beide erst mal für ein Jahr dort noch mal Oberschüler oder Gymnasiasten. Das wurde nicht anerkannt damals. Obwohl ich sagen möchte, dass gerade an der Thomas-Schule die Ausbildung eine sehr gute war. Das habe ich auch während meiner ganzen Berufstätigkeit immer wieder erfahren. Natürlich standen nicht die Naturwissenschaften im Vordergrund, sondern die alten Sprachen. Und es gab auch einen neusprachlichen Zweig und auch naturwissenschaftlich. Alles an der Thomas-Schule. Wir waren in dem damals sogenannten C-Zweig, im altsprachlichen Zweig. Aber die Grundlage, das haben auch spätere Mediziner gesagt, die wir bekommen haben für unser Leben, die waren sehr gut. Auch für Philologen oder wie mich eben als Kunsthistorikerin."

Zur Abiturklasse von Irene Roch und Andreas Grüntzig am Thomas-Gymnasium gehörten 24 Schüler. Acht von ihnen gingen in den Westen. Also ein Drittel.

Johannes Grüntzig: "Wir beide sind ja eigentlich angetreten, die Welt zu verbessern. Wir wollten etwas besser machen, wir wollten die Medizin auch besser machen. Und deshalb haben wir sehr früh auch die Idee schon gehabt, dass man, wenn man was ändern will, das in den sogenannten Entwicklungsländern besser tun könnte als hier in Deutschland, weil hier das System an sich schon sehr etabliert ist. Und so haben wir beide uns fast zufällig getroffen, muss man sagen, in der Tropenmedizin. Wir haben zum Ende unseres Studiums freiwillige Ausbildungskurse in Heidelberg für Tropenmedizin gemacht und der erste Ansatz meines Bruders war ja auch im Institut für Epidemiologie und er hat auch in London an dem Institut Epidemiologie gemacht."

Das ist 1968. Bald ändert Andreas Grüntzig seine Berufsplanung. Im Städtischen Klinikum in Darmstadt lernt er das Leid der Patienten mit der sogenannten "Schaufensterkrankheit" kennen. Der Patient bleibt wegen seiner Schmerzen im Bein ständig stehen, weil ihm die Verkalkung der Gefäße zu schaffen macht. 1969 bewirbt er sich am Universitätsspital Zürich, um in der angiologischen Abteilung zu arbeiten.

Bernhard Meier: "Bevor er diesen großen Wurf gemacht hat, hat man einfach gemerkt, das ist jemand, der tut was, der will was bewegen ..."

Bernhard Meier kommt als junger Assistenzarzt zu einer Zeit in die angiologische Abteilung nach Zürich, als Andreas Grüntzig seinem Forschungsziel schon ziemlich nahe ist.

Bernhard Meier: ".. Selbst wenn ihm das nicht gelungen wäre, was ihm gelungen ist, wenn er nicht weltberühmt geworden wäre in der Medizin, er wäre trotzdem für junge Ärzte wahrscheinlich ein gewisses lokales Rollenmodell geblieben. Man hat gedacht, so wie der möchte ich auch mal werden: Erfolgreich, gut aussehend, beliebt, er macht was, was andere noch nicht gemacht haben. Man darf nicht vergessen, er hat auch andere originelle Dinge gemacht. Er war sicher kein Null-Acht-Fünfzehn-Doktor, der einfach nach Lehrbuch seine Arbeit verrichtet hat, sondern er hat da und dort mal nach links und rechts ausgeschert und mal was anderes versucht. Immer mit kalkulierbarem Risiko. Aber er hat's versucht und in dieser einen Sache hat sich das weltweit dann auch ausgezahlt."

Heute ist Bernhard Meier Direktor der Klinik für Kardiologie am Universitätsspital in Bern. Wie Andreas Grüntzig genau auf die Idee kam, mit einem winzigen Ballon Verschlüsse in den feinen Herzkranzgefäßen aufzusprengen, hat er auch seinen nächsten Kollegen nicht erzählt. Aber Johannes Grüntzig berichtet über eine winzige Episode, die sein Bruder sehr oft erzählt hat.

"Es war ja ein Patient gewesen, der meinen Bruder eigentlich darauf hingewiesen hat, und zwar war das ein Installateur, der also mit Rohren zu tun hat, und mein Bruder sagte bei ihm, er hätte also doch Verstopfungen seiner Gefäße und man müsste da operieren. Dann sagte er: Sagen Sie mal, warum können Sie nicht so wie ich einfach mit einem Draht und Bürste durch das Gefäß und da rein und das schön frei bürsten?

Während ein anderer vielleicht gelacht hätte, sagte der Andreas: Also hören Sie mal zu, das ist an sich eine sehr gute Idee. Also, da sollte man drüber nachdenken. Durch diesen Anstoß, so hat er selbst später das auch immer wieder dargestellt, hat er sich dann umgeschaut, hat dann die Dotter-Methode, die der Charles Dotter in Amerika eingeführt hat, mit übernommen."

Charles Dotter öffnete bei einer Patientin, deren Bein amputiert werden sollte, die verschlossene Arterie erst mit einem Katheter mit kleinem Durchmesser. Er wiederholte die Prozedur mit immer größeren Kathetern, bis der volle Durchfluss wieder hergestellt war. Ein blutiges Verfahren, aber wirkungsvoll. Die Dotter-Methode führte Andreas Grüntzig ab 1971 in Zürich ein. Den Weg zur Behandlung des Herzens begann er von den Beinen her. Während der ersten dreieinhalb Jahre entwickelte Andreas Grüntzig die Ballon-Idee, um zunächst Verschlüsse in den größeren Beinarterien zu beseitigen. Der Ballon löste auf einfache Weise das sogenannte Flaschenhalsproblem.

Bernhard Meier: "Der Ballon hat dies genial gelöst. Man bringt etwas Schlankes rein und das wird dick nur dort, wo es sein muss. Dann wird es wieder schlank und kann wieder rausgezogen werden. Es ist, wie wenn Sie wie in einen Tunnel wollen, wo der Eingang sehr klein ist, im Tunnel haben sie zwar Platz, aber der Eingang ist zu klein, Sie kommen da nicht rein, außer sie können sich schrumpfen und dann wieder groß machen. Und das hat der Ballon gebracht. Und da hat Andreas Grüntzig mit einer ganz einfachen Idee den gordischen Knoten gelöst."

Nachdem ihm die erste Ballondilatation in einem Beingefäß gelungen ist, benötigte Andreas Grüntzig noch einmal dreieinhalb Jahre, bis er sich im September 1977 in Zürich an die Behandlung eines Herzkranzgefässes heranwagen kann.

Bernhard Meier: "Und da hatten die Kritiker oder Zweifler natürlich schon Recht: Man wusste nicht mit Sicherheit, ob der erste Patient und auch die weiteren Patienten das überleben würden und ob das wirklich gehen würde. Andreas Grüntzig wusste es natürlich wesentlich besser als seine Kritiker, weil er an Beinen ja ähnliche Arterien – etwas größere allerdings - aufgedehnt hatte mit Erfolg. Er hat schon Beine gerettet. Nur geht's da, wenn es nicht geht, nicht gleich ums Leben. Es geht im schlimmsten Fall darum, dass man vielleicht einen Fuß verliert. Also so etwas, aber nicht ums Leben.

Er hat natürlich bei Hunden ähnliche Situationen am Herzen schon gemacht und gesehen, die Hunde können das überleben. Aber es haben auch nicht alle Hunde überlebt. Es gab Hunde, die haben den Versuchseingriff auch nicht überlebt. Er konnte nicht mit Sicherheit sagen, dass Herr Bachmann diesen Eingriffstag überleben werde, das konnte er nicht mit Sicherheit sagen. Er konnte schätzen, dass wahrscheinlich das schon so sein wird. Diese Verantwortung auf sich zu nehmen, zeichnet eben auch den Pionier aus."

Vor allem durch ihre Einfachheit verbreitet sich die Methode wahnsinnig schnell. Zu den legendären Kursen in Zürich, in denen der Pionier der invasiven Kardiologie seit 1978 sein Wissen weiter gibt, kommen Kollegen aus aller Welt. Die neue Methode sprengt die Kapazitäten des Universitätsspitals. Gewohnte Hierarchien geraten ins Wanken.

Johannes Grüntzig: "Und obwohl dann die Patientenmassen nach Zürich strömten, hat man ja Andreas die Arbeit immer schwerer gemacht. Dass er erleben musste, dass er eine Methode hatte, mit der man Leben retten konnte, aber die Patienten auf der Warteliste starben. Da war mein Bruder wieder jemand, er hätte ja zufrieden sein können, er wurde dann zum Oberarzt ernannt, dann hätte jemand anderes vielleicht sich begnügt und hätte gesagt, gut, ich mache dann in der Woche vielleicht zwei Patienten, mehr durfte man nicht, oder drei, aber Andreas sagte, das toleriere ich nicht, ich lasse das nicht zu, ich habe ein Instrument in der Hand, mit dem ich vielen Menschen helfen kann.

Da, aus dieser Folgerung heraus hat er sich umgesehen. Als er dann Angebote bekam nach Amerika, wo man ihm sagte: Ja, du kriegst hier die Betten, die du brauchst, ist er nach Amerika gegangen. Das ist auch wieder logisch für seinen Lebensweg. Als er dann dort in Atlanta erlebte, dass man ihm wieder keine Betten für die Patienten zubilligen wollte, hat er gekündigt. Jeder andere wäre froh gewesen, in Amerika, du hast die Stelle, wunderbar, hat er gekündigt, und auf Grund dieser Kündigung hat man sich in Atlanta was Neues einfallen lassen und plötzlich ging es."

Bernhard Meier: "Wenn jemand sehr spät in seiner Krankheit ist und schon sehr viele Engstellen hat, viele Gefäße auch ganz verschlossen und der Herzmuskel arbeitet schon nicht mehr gut, ist auch heute die große Operation immer noch die bessere Wahl. Wenn man die Patienten aber früh entdeckt, wenn eben das erste Problem sich früh manifestiert und nur ein Gefäß erkrankt ist, vielleicht zwei maximal, selten mal drei, aber nur an vielleicht drei Stellen kann man das heute praktisch voll umfänglich ersetzen durch diese Ballondilatation mit Stenteinsatz und braucht keine Operation. Und zahlenmäßig war zu Beginn Grüntzig relativ skeptisch und hat gesagt: Wenn wir mal 15 Prozent aller Patienten, die einen Eingriff bei ihren Herzkranzgefäßen brauchen, mit dem Ballon behandeln können, dann haben wir sehr viel erreicht. Und heute, und das hat nicht mal er vorausgesehen, ist es genau umgekehrt. Es müssen nur noch 15 Prozent operiert werden, ungefähr 80 bis 85 Prozent können mit den Ballonen und Stent behandelt werden."

1983 heiratet Andreas Grüntzig in Atlanta die Ärztin Margaret Anne Thornton, nachdem seine Frau Michaela zurück nach Zürich gegangen war. Er ist 44 Jahre alt und ein berühmter Herzspezialist in Amerika. Die Deutsche Gesellschaft für Kardiologie zeichnet ihn im gleichen Jahr mit einem Preis aus.

Johannes Grüntzig: "Und er setzte sich für die Beschränkung der Ballondilation ein. Er wollte nicht, dass uferlos dilatiert wurde. Ich erinnere mich daran, dass eben kurz vor seinem Tod immer wieder Gespräche stattfanden, weil die Firma Schneider ihr Aktienpaket, die haben ja Andreas nicht bezahlen können. Gut, Andreas hatte auch nicht irgendwelche größere Vorstellungen. Dann wurde die kleine Firma in eine Familienaktiengesellschaft überführt, mit 100 Aktien und er bekam zehn davon. Und diese Aktien spielten später wohl eine recht bedeutsame Rolle, weil die Firma dann an amerikanische Firmen verkaufte mit sehr hohen Summen und dann waren die zehn Aktien meines Bruders, die störten. Weil sie wussten, dass Andreas auch aufgestanden wäre, und gesagt hätte: Bitte ich möchte nicht, dass hier uferlos produziert wird."

Am 27. Oktober 1985 fliegt Andreas Grüntzig mit der Privatmaschine von seinem Ferienhaus auf Sea Island zurück nach Atlanta. Das Flugzeug gerät in einen Sturm. Die Navigation funktionierte nicht. Die Maschine stürzte ab. Weder Andreas Grüntzig noch seine Frau Margaret Anne überleben.

Johannes Grüntzig: "Und merkwürdigerweise sind eben diese zehn Aktien dann nach seinem Tod spurlos verschwunden. Also angeblich wurden sie verkauft zu einem Zeitpunkt, wo ich noch mehrfach in Amerika war und wo er mir immer wieder gesagt hat: Ich verkaufe diese Aktien nicht! Ich brauche das Geld nicht! Obwohl man ihm 1, 5 Millionen dafür geboten hat. Das ist ja eine enorme Summe. Vielleicht waren das 10.000 Fränkli gewesen ursprünglich. Da sagte er: Ich brauche das Geld nicht. Für mich ist wichtiger, dass ich einen gewissen Einfluss zum Wohle der Patienten habe auf diese Methode."

Johannes Grüntzig belässt es dabei, auf Ungereimtheiten im Absturzbericht aufmerksam zu machen, die ein Fragezeichen zum Tod seines Bruders hinterlassen.
"Nach dem vorliegenden Bericht, das ist ja ein recht umfangreicher Bericht, der Behörden, die die Flugzeugabstürze untersuchen, ist es so, dass man hier nicht etwa von Leichtsinn ausgehen kann. Sondern dieses Flugzeug ist aus technischen Gründen abgestürzt. Das ist auf alle Fälle sicher. Und nach unsern Analysen ist es so, dass hier Vakuumpumpen nicht an dem Ort waren, wo sie eigentlich sein sollten. Und zwar festgeschraubt an den Motorblöcken. Die Motorblöcke hat man direkt in der Nähe der Absturzstelle, der Körper von meinem Bruder gefunden, aber die Vakuumpumpen waren etwa 30 Meter entfernt. Das war nur möglich, dass sie gelockert waren. Das heißt, sie waren nicht fest an dem Ort. Und zwar beide. Von beiden Motoren.

Das ist schon einigermaßen sehr verdächtig und legt also den Schluss nahe, dass hier vor dem Abflug diese extern gelockert worden waren, was der Pilot bei dem Check seines Flugzeuges nicht feststellen kann. Weil ja am Anfang funktioniert die Sache und erst mit der Zeit ziehen die gewissermaßen Luft. Das heißt in das System kommt Luft hinein. Man kann mit den wichtigsten Flugorientierungsinstrumenten wie auch dem künstlichen Horizont, der arbeitet dann nicht mehr richtig, ohne dass das der Pilot überhaupt feststellen kann.

Das erklärt auch die aufgezeichneten Funkverbindungen, wonach immer wieder von den Towers die Mitteilung kommt: 'Sie fliegen ja in die und die Richtung.' Er sagt: 'Der Autopilot ist nicht in Ordnung, der funktioniert nicht mehr.' Dann die letzte Meldung, dass sein Hauptsystem, mit dem er sich orientieren kann, ausgefallen war."

Allein in Deutschland werden jedes Jahr 800.000 Untersuchungen im Katheterlabor durchgeführt. Zu häufig, sagen Kritiker, denn nur bei 300.000 Patienten erfolgt die Intervention mit einem Ballonkatheter. Und bei Patienten mit nur leichten Ablagerungen in den Gefäßen wäre auch nicht in jedem Fall eine Aufdehnung durch Ballon erforderlich. In Deutschland , und nicht nur in Deutschland, wird zu viel kathetert und es werden zu Gesunde kathetert. Eine Bilanz, die Andreas Grüntzig wohl kommen sah.

Seinen Kollegen bleibt die Erinnerung. Und seinen Bruder begleiten für immer die Bilder vom Abschied.

Johannes Grüntzig: " ... Wo in einer endlosen Reihe Autos und Trauernde defilieren. Margaret Ann hat dort als Ärztin gearbeitet im Emory Hospital. Und Andreas war der Pionier in der Kardiologie. Dann noch einmal ein Bild auf die Trauergemeinde. Die vielen Autos. Und den Hinweis, dass es einen Fond gibt, der zu Spenden aufruft für zu fördernde Forscher auf dem Gebiet der Kardiologie."

Bernhard Meier: "Er hat gesungen, er hat auch Gitarre gespielt, er hat sehr gut getanzt. Das war ein Hobby von ihm. Er war musikalisch auch sehr interessiert. Seine Mutter war Klavierlehrerin, Pianistin. Die Musik in seinem Leben war wichtig. Sein Vater war Geograph, also Wissenschaftler. Ist leider in den letzten Kriegstagen verschollen. Man hat nie gewusst genau, wie er umgekommen ist. Andreas hat ihn, da er 39 geboren ist, als Vier-, Fünfjähriger praktisch nie gesehen und auch eigentlich nicht gekannt."