Von Kolja Mensing
Die skandalöse Trauerrede des baden-württembergischen Ministerpräsidenten Günther Oettinger für Hans Filbinger beschäftigte die Zeitungen in der vergangenen Woche. Das andere große Thema war der Amoklauf eines Studenten an der Virginia Tech University in Blacksburg.
Günther Oettingers skandalöse Trauerrede für Hans Filbinger war die ganze Woche über Thema.
Die FRANKFURTER ALLGEMEINE ZEITUNG stieß sich insbesondere an der Behauptung des baden-württembergischen Ministerpräsidenten, der ehemalige Marinerichter Filbinger habe unter der NS-Herrschaft "gelitten". Damit würden die "Funktionsträger des Verbrecherregimes" zu Opfern gemacht – und das zum ersten Mal ganz offiziell von einem "Repräsentanten des Staates bei einem Staatsakt".
Der Schriftsteller Zafer Senocak wollte dagegen in Oettingers öffentlichem Eintreten für den diskreditierten Filbinger einen Beleg dafür erkennen, dass das wiedervereinigte Deutschland "weit zurückgefallen ist hinter die moralische Verfasstheit und die gesellschaftliche Reife der Bundesrepublik". Hinter den "Fassaden ritueller Vergangenheitsbewältigung" vagabundiere weiterhin "kopflos das deutsche Nationalgefühl".
Steht der Fall Oettinger also in einer Reihe mit der neuen Lust an Schwarz-Rot-Gold, die die Deutschen während der WM entdeckten, oder mit der wachsenden medialen Präsenz von Themen wie "Flucht" und "Vertreibung"?
Die Versuchung sei groß, das Reinwaschen Filbingers als Folge einer vermeintlichen Enttabuisierung zu betrachten, so als hätten die Deutschen sich in den letzten Jahren zuviel herausgenommen, hieß es zunächst auch in der ZEIT.
In der Wochenzeitung wollte man allerdings nicht zurück hinter die "Selbstverständlichkeit" nationaler Empfindungen – und erklärte etwas bemüht:
"Die Freude an Deutschland zur Fußballweltmeisterschaft und die Rigorosität in der Verurteilung Oettingers gehören zusammen. Das ist auch eine gute Demonstration von deutschen Patriotismus."
Einig waren sich die Kommentatoren jedoch im Lob für Angela Merkel und ihre deutliche Kritik an ihrem Parteigenossen Oettinger. Die Bundeskanzlerin habe gezeigt, dass es "Grenzen der Weißwascherei" gebe, formulierte die FRANKFURTER RUNDSCHAU und erklärte:
"Darüber freuen wir uns. Wir erinnern uns nur zu gut daran, wie oft man bei Helmut Kohl vergeblich auf ein solches Machtwort wartete."
Das andere große Thema der Woche war der Amoklauf eines Studenten an der Virginia Tech University in Blacksburg. Der Student Cho Seung Hui hatte 32 Menschen erschossen und sich anschließend selbst umgebracht.
"33 Tote an einem Tag, so zynisch das klingt, es wäre für Bagdad nicht der schlimmste Tag","
stellte der Berliner TAGESPIEGEL in einem ersten Kommentar fest – und suchte nach Verbindungslinien zwischen George W. Bushs militärischen Debakel im Irak und dem Massenmord an einer Hochschule:
""Die Massaker in der Medienwelt, von der seriösen Nachrichtensendung über den TV-Dauerkrimi bis zu den Hardcore-Videogames verkehren sich plötzlich in die Realität."
In diesem recht weit gesteckten Feld aus Medientheorie, Gesellschaftskritik und Amerikaschelte bewegten sich die meisten der Beiträge zu der Tragödie von Blacksburg.
Und natürlich liefen die Kulturwissenschaftler zur Höchstform auf. Im Gespräch mit dem TAGESSPIEGEL schlug Elisabeth Bronfen den Bogen vom amerikanischen Individualismus zu einer weit verbreiteten Kultur der Gewalt: "Der Amoklauf", erklärte sie, "ist der radikalste Ausdruck von Auflehnung gegen das Gesetz."
Die FRANKFURTER RUNDSCHAU unterhielt sich mit Bronfens Kollegen Josef Vogl, der in den blutigen Ereignissen von Blacksburg im Zusammenhang mit dem Irakkrieg ein "Symptom für eine Deregulierung der zivilen Gesellschaft" sieht:
"Der Krieg, die Attacke ist näher als man denkt."
"Bleibt die Merkwürdigkeit, dass die Bilder von blutigen Attentaten mit zahlreichen Opfern im Irak oder in Afghanistan längst nicht mehr das gleiche Entsetzen hervorrufen wie die Taten einzelner junger Männer in unseren Breiten","
ergänzte der Kulturwissenschaftler Manfred Schneider ebenfalls in der FR, und erklärte lapidar:
""Die moderne Welt wird die Beunruhigung nicht abstreifen können, die aus der Grundlosigkeit der Taten emporsteigt. Wir müssen uns an solche Taten gewöhnen, wie wir uns an die Verkehrstoten gewöhnt haben."
Schon bald zeigten sich allerdings gewisse Ermüdungserscheinungen beim Versuch, Erklärungen für das Unerklärbare zu finden.
Die FAZ ärgerte sich zuletzt doch sehr über die geradezu inflationären Deutungsversuche von selbsternannten Amok-Experten in den abendlichen Talk-Shows:
"Offenbar gibt es Fachvertreter im medialen Bereitschaftsdienst, die dies wie eine Zusatzqualifikation begreifen: Je mehr Dienstjahre sie als Ferndiagnostiker in den Fernsehstudios auf dem Buckel haben, desto eher fühlen sie sich beim nächsten Massaker wieder zur Stellungnahme berufen."
Auch als dann zwei kurze Theaterstücke auftauchten, die der Student und spätere Massenmörder im Rahmen eines Creative-Writing-Kurses verfasst hatte, wollte niemand einen Zusammenhang zwischen den gewalttätigen Szenen und dem Amoklauf herstellen:
"In Schreibübungen und Aufsätzen werden niemals zweifelsfreie Zeichen zu finden sein, die auf eine künftige Bluttat verweisen","
hieß es in der SZ, und die NEUE ZÜRCHER ZEITUNG stellte kategorisch fest:
"Dem Schrecken, den der Mörder verbreitete, wohnt keine Schönheit inne, ihm ist nicht beizukommen, weder mit Analysen noch mit Schulddebatten, noch mit weiteren Auffächerungen seiner schriftlichen Erzeugnisse."
Bleibt noch der Verweis auf eine doch etwas verstörende Stellungsnahme des deutschen Schriftstellers Gregor Hens, der seit vielen Jahren als Germanist in den USA lehrt.
In einem Gastbeitrag für den TAGESSPIEGEL erklärte er ganz offen, dass er schon seit langem mit einem Amoklauf an einer Universität gerechnet habe – und auch schon entsprechende Maßnahmen zur Selbstverteidigung ergriffen habe:
""Dann und wann fahre ich zu (einer) Schießanlage, miete mir eine Glock 17, setze mir den Ohrenschutz auf und verschieße eine Packung Patronen."
Die Romane von Gregor Hens werden wir von nun an mit anderen Augen lesen.
Die FRANKFURTER ALLGEMEINE ZEITUNG stieß sich insbesondere an der Behauptung des baden-württembergischen Ministerpräsidenten, der ehemalige Marinerichter Filbinger habe unter der NS-Herrschaft "gelitten". Damit würden die "Funktionsträger des Verbrecherregimes" zu Opfern gemacht – und das zum ersten Mal ganz offiziell von einem "Repräsentanten des Staates bei einem Staatsakt".
Der Schriftsteller Zafer Senocak wollte dagegen in Oettingers öffentlichem Eintreten für den diskreditierten Filbinger einen Beleg dafür erkennen, dass das wiedervereinigte Deutschland "weit zurückgefallen ist hinter die moralische Verfasstheit und die gesellschaftliche Reife der Bundesrepublik". Hinter den "Fassaden ritueller Vergangenheitsbewältigung" vagabundiere weiterhin "kopflos das deutsche Nationalgefühl".
Steht der Fall Oettinger also in einer Reihe mit der neuen Lust an Schwarz-Rot-Gold, die die Deutschen während der WM entdeckten, oder mit der wachsenden medialen Präsenz von Themen wie "Flucht" und "Vertreibung"?
Die Versuchung sei groß, das Reinwaschen Filbingers als Folge einer vermeintlichen Enttabuisierung zu betrachten, so als hätten die Deutschen sich in den letzten Jahren zuviel herausgenommen, hieß es zunächst auch in der ZEIT.
In der Wochenzeitung wollte man allerdings nicht zurück hinter die "Selbstverständlichkeit" nationaler Empfindungen – und erklärte etwas bemüht:
"Die Freude an Deutschland zur Fußballweltmeisterschaft und die Rigorosität in der Verurteilung Oettingers gehören zusammen. Das ist auch eine gute Demonstration von deutschen Patriotismus."
Einig waren sich die Kommentatoren jedoch im Lob für Angela Merkel und ihre deutliche Kritik an ihrem Parteigenossen Oettinger. Die Bundeskanzlerin habe gezeigt, dass es "Grenzen der Weißwascherei" gebe, formulierte die FRANKFURTER RUNDSCHAU und erklärte:
"Darüber freuen wir uns. Wir erinnern uns nur zu gut daran, wie oft man bei Helmut Kohl vergeblich auf ein solches Machtwort wartete."
Das andere große Thema der Woche war der Amoklauf eines Studenten an der Virginia Tech University in Blacksburg. Der Student Cho Seung Hui hatte 32 Menschen erschossen und sich anschließend selbst umgebracht.
"33 Tote an einem Tag, so zynisch das klingt, es wäre für Bagdad nicht der schlimmste Tag","
stellte der Berliner TAGESPIEGEL in einem ersten Kommentar fest – und suchte nach Verbindungslinien zwischen George W. Bushs militärischen Debakel im Irak und dem Massenmord an einer Hochschule:
""Die Massaker in der Medienwelt, von der seriösen Nachrichtensendung über den TV-Dauerkrimi bis zu den Hardcore-Videogames verkehren sich plötzlich in die Realität."
In diesem recht weit gesteckten Feld aus Medientheorie, Gesellschaftskritik und Amerikaschelte bewegten sich die meisten der Beiträge zu der Tragödie von Blacksburg.
Und natürlich liefen die Kulturwissenschaftler zur Höchstform auf. Im Gespräch mit dem TAGESSPIEGEL schlug Elisabeth Bronfen den Bogen vom amerikanischen Individualismus zu einer weit verbreiteten Kultur der Gewalt: "Der Amoklauf", erklärte sie, "ist der radikalste Ausdruck von Auflehnung gegen das Gesetz."
Die FRANKFURTER RUNDSCHAU unterhielt sich mit Bronfens Kollegen Josef Vogl, der in den blutigen Ereignissen von Blacksburg im Zusammenhang mit dem Irakkrieg ein "Symptom für eine Deregulierung der zivilen Gesellschaft" sieht:
"Der Krieg, die Attacke ist näher als man denkt."
"Bleibt die Merkwürdigkeit, dass die Bilder von blutigen Attentaten mit zahlreichen Opfern im Irak oder in Afghanistan längst nicht mehr das gleiche Entsetzen hervorrufen wie die Taten einzelner junger Männer in unseren Breiten","
ergänzte der Kulturwissenschaftler Manfred Schneider ebenfalls in der FR, und erklärte lapidar:
""Die moderne Welt wird die Beunruhigung nicht abstreifen können, die aus der Grundlosigkeit der Taten emporsteigt. Wir müssen uns an solche Taten gewöhnen, wie wir uns an die Verkehrstoten gewöhnt haben."
Schon bald zeigten sich allerdings gewisse Ermüdungserscheinungen beim Versuch, Erklärungen für das Unerklärbare zu finden.
Die FAZ ärgerte sich zuletzt doch sehr über die geradezu inflationären Deutungsversuche von selbsternannten Amok-Experten in den abendlichen Talk-Shows:
"Offenbar gibt es Fachvertreter im medialen Bereitschaftsdienst, die dies wie eine Zusatzqualifikation begreifen: Je mehr Dienstjahre sie als Ferndiagnostiker in den Fernsehstudios auf dem Buckel haben, desto eher fühlen sie sich beim nächsten Massaker wieder zur Stellungnahme berufen."
Auch als dann zwei kurze Theaterstücke auftauchten, die der Student und spätere Massenmörder im Rahmen eines Creative-Writing-Kurses verfasst hatte, wollte niemand einen Zusammenhang zwischen den gewalttätigen Szenen und dem Amoklauf herstellen:
"In Schreibübungen und Aufsätzen werden niemals zweifelsfreie Zeichen zu finden sein, die auf eine künftige Bluttat verweisen","
hieß es in der SZ, und die NEUE ZÜRCHER ZEITUNG stellte kategorisch fest:
"Dem Schrecken, den der Mörder verbreitete, wohnt keine Schönheit inne, ihm ist nicht beizukommen, weder mit Analysen noch mit Schulddebatten, noch mit weiteren Auffächerungen seiner schriftlichen Erzeugnisse."
Bleibt noch der Verweis auf eine doch etwas verstörende Stellungsnahme des deutschen Schriftstellers Gregor Hens, der seit vielen Jahren als Germanist in den USA lehrt.
In einem Gastbeitrag für den TAGESSPIEGEL erklärte er ganz offen, dass er schon seit langem mit einem Amoklauf an einer Universität gerechnet habe – und auch schon entsprechende Maßnahmen zur Selbstverteidigung ergriffen habe:
""Dann und wann fahre ich zu (einer) Schießanlage, miete mir eine Glock 17, setze mir den Ohrenschutz auf und verschieße eine Packung Patronen."
Die Romane von Gregor Hens werden wir von nun an mit anderen Augen lesen.