Von Kolja Mensing

Vor dem Hintergrund des Mordes am Kreml-Kritiker Alexander Litwinenko beschäftigen sich die Feuilletons mit dem Zustand der russischen Demokratie und den Hintergründen des Anschlags. Thema ist in vielen Zeitungen auch der neue Film von Mel Gibson und die Studie des Bielefelder Soziologen Wilhelm Heitmeyer zur „gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit“.
Der Mord an dem ehemaligen Agenten und Regimekritiker Alexander Litwinenko hat eine breite Debatte über den Stand der Demokratie in Russland ausgelöst.

„Es gehört zu den Paradoxien des Post-Kommunismus, dass die Intelligenzia, die so leidenschaftlich gegen das Regime kämpfte, sein Verschwinden nicht überlebt hat“,

stellte die SÜDDEUTSCHE ZEITUNG fest. Ein neuer Sacharow sei in Russland nicht in Sicht.

Die „neuen Dissidenten“ seien die kritischen Journalisten. Allerdings fehle es ihnen an einer übergreifenden Vision. Stattdessen würden sie einzeln und in mühevoller Kleinarbeit auf dem Gebiet der Menschenrechte oder des Umweltschutzes arbeiten. Und das oft ohne Erfolg:

„Sie reiben sich für ihr Land auf, während die Gegenseite es zugrunde richtet.“

Litwinenko ist bekanntlich mit einer radioaktiven Substanz vergiftet worden und hatte kurz vor seinem Tod den russischen Präsidenten Putin für das Attentat verantwortlich gemacht.

Noch weiß man wenig über die wahren Hintergründe des Anschlags. Trotzdem wies die WELT schon einmal auf ein „Geheimlabor“ hin, in dem der KGB seit den 20er-Jahren mit der Herstellung „nicht nachweisbarer Gifte“ beschäftigt gewesen sei. Angeblich existiere die Forschungseinrichtung immer noch.

Es sei jedoch längst nicht bewiesen, dass Angriffe gegen Regimegegner auf Initiative oder auch nur mit Wissen des Kremls stattfänden, warnte die SÜDDEUTSCHE – und für die FRANKFURTER RUNDSCHAU verbergen sich hinter der deutschen Kritik an Putin und seiner Politik vor allem „antirussische Klischees“:

„energiepolitische Kraftmeierei, Rückgriff auf Symbole aus Zarenautokratie und Stalindiktatur, Tschetschenienkrieg, alltäglicher Rassismus, Demokratie-Defizite, staatliche Willkür, Großmachtgehabe. Als wäre dies der russische Volkscharakter.“

Die große Rezensionsschlacht tobte in dieser Woche derweil um „Apocalypto“, Mel Gibsons Film über den Untergang der Maya-Kultur. Die meisten Kritiker waren sich einig, dass man hier eigentlich nichts anderes als eine lange Reihe von Grausamkeiten zu sehen bekomme.

Auch für seine kulturkritische Botschaft fand Gibson wenig Anerkennung. Die Erkenntnis, dass Zivilisationen sich von innen her zerstören, klinge durchaus plausibel, schrieb die FR, und sei vielleicht auch auf die amerikanische Gegenwart zu übertragen. An den aufklärerischen Absichten des Regisseurs dürfe man jedoch zweifeln:

„Vielleicht hat Gibson sich nur mit den fernen Maya befasst, um sich nicht wieder mit der eigenen, im vergangenen Sommer gegenüber einem Polizisten geäußerten Ansicht im Wege zu stehen – dass nämlich alle Krieg der Welt von Juden angezettelt worden seien.“

Die antisemitischen Ausfälle, mit denen Mel Gibson traurige Schlagzeilen gemacht hatte, stehen seinem Erfolg in Hollywood offenbar nicht im Wege, wunderte sich der SPIEGEL – und der TAGESSPIEGEL wollte eine „Form von persönlichem Exorzismus“ darin erkennen, dass Gibson zeige, wie einem Mann bei lebendigem Leib das Herz herausgerissen wird.

Nur die gute alte ZEIT hatte übrigens kein Problem mit den Splatter-Bildern:

„Gewalt und Grausamkeit (…) sind legitime filmische Gegenstände“,

hieß es in der Wochenzeitung über die „Wunsch- und Albträume“, die Gibson auf die Leinwand bringe:

„Man sieht keinen Dschungel, sondern eine Innenwelt, von der man lieber nichts wüsste.“

Auch im Dschungel der deutschen Gesellschaft stößt man auf Abgründe.

Die SÜDDEUTSCHE ZEITUNG stellte eine Langzeitstudie des Bielefelder Soziologen Wilhelm Heitmeyer vor, mit Ergebnissen zur „gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit“: Nationalstolz gehe oft mit Fremdenhass einher, zwanzig Prozent der Deutschen hielten Homosexualität für unmoralisch, und selbst unter gebildeten Deutschen gebe es starke Ressentiments gegenüber dem Islam.

Nun war die FRANKFURTER ALLGEMEINE ZEITUNG bereits zu Beginn der Woche gegen „falsche Toleranz“ ins Feld gezogen und hatte die Entscheidung des Kölner Kardinals Meisner verteidigt, keine gemeinsamen religiösen Feiern von Christen und Moslems zuzulassen.

Als Reaktion auf die Präsentation von Heitmeyers Studie und insbesondere auf seine Thesen zum Islam legte die FRANKFURTER ALLGEMEINE noch einmal nach. In einer scharfen Glosse empfahl sie dem Bielefelder Wissenschaftler ein „Bachelorstudium der Soziologie“ und verurteilte den „verwahrlosten Stand der Vorurteilsforschung“ in Deutschland: Gesellschaftliche Realitäten träten hinter Phrasen zurück.

Für die FAZ scheint klar zu sein, wie diese Realitäten aussehen. Zumindest erschien gleichzeitig mit der Glosse unter der Überschrift „Die Terroristen“ eine längere Klage über die Verrohung der Teenager in Berlin-Neukölln und anderswo. Das, so konnte man zwischen den Zeilen lesen, sei der wahre deutsche Dschungel.

Die Straße sei zum Schlachtfeld geworden, hieß es in dem Beitrag, der die Übergriffe von türkischen und arabischen Jugendlichen auf gleichaltrige deutschstämmige Mitschüler in den Mittelpunkt stellt:

„Für das, was wir im umgekehrten Fall rassistische Diskriminierung nennen würden, gibt es keine Rubrik in den unzähligen Statistiken“,

so die FAZ, und zitierte zwei Berliner Jugendrichter, die von einer „unverblümten Deutschenfeindlichkeit“ sprechen.

Wird unsere Kultur, wie die der Maya, also von innen heraus zerstört?

Auch die aktuelle Ausgabe der FRANKFURTER ALLGEMEINEN SONNTAGSZEITUNG greift Heitmeyers Studie über die „Deutschen Zustände“ auf – und hier ist der Tonfall nicht ganz so pessimistisch.

Die „steigende Islamophobie“ unter den gebildeten Befragten sei vor allem ein Zeichen dafür, dass sich „gewisse traditionell gutmeinende Denkrichtungen“ von der Diskussion um die Zukunft der Gesellschaft abgekoppelt hätten. Die „klassischen Linksintellektuellen, triumphiert die FAS, hätten offenbar innerhalb der Diskussion um Migration und Integration nichts mehr zu melden.

Auch wenn es auf den ersten Blick um Einwanderer gehen mag – DAS hier klingt auf jeden Fall nach einer sehr deutschen Diskussion.