Von Kolja Mensing

Die Feuilletons nehmen das 1500 Seiten schwere Manifest des Attentäters von Oslo und Utoya genauer unter die Lupe. Es zeige "das Gehirn eines Menschen als Filter für den Wahnsinn unserer Tage", schreibt die "Welt".
Und wenn alles nur Fiktion wäre? – Man könnte sich [Anders Behring Breivik] als Antagonisten in einem Roman von Henning Mankell oder Stieg Larsson vorstellen", schreibt Thomas Steinfeld in der SÜDDEUTSCHEN ZEITUNG, "als den ultimativen Bösewicht".

Mit den Attentaten in Oslo und auf der Insel Utoya sei "auf bedrückende Art und Weise" verwirklich worden, was in vielen skandinavischen Thrillern schon einmal inszeniert worden sei, behauptet Steinfeld: "Die plötzliche Überwältigung der heimatlichen Idylle durch das (...) Verbrechen gehört ebenso zum engsten Repertoire des nordischen Kriminalromans wie die unerhörte Grausamkeit, mit der diese Überwältigung vollzogen wird."

Warum gerade die friedlichsten Gesellschaften in Europa die blutigsten Kriminalromane hervorgebracht haben, erklärt der Kulturchef der SÜDDEUTSCHEN mit der heilsamen Wirkung der Literatur:

"In der Fantasie werden die der Gemeinschaft schädlichen Elemente erkannt und wirkungslos gemacht."

Dieser Zauber der Fiktion ist jetzt gebrochen. Anders Behring Breivik ist keine Romanfigur, sondern ein Massenmörder. Trotzdem begegnet das Feuilleton den grausamen Nachrichten aus Norwegen jetzt in erster Linie mit textkritischem Handwerkszeug – und stürzt sich auf das über 1500 Seiten schwere Manifest des Attentäters, das im Internet kursiert.

"Eine krude Mischung aus zusammenkopierter Theorie, kulturkritischen Aphorismen, romanhaften Tagebucheintragungen (...) und zugleich der Versuch, die Weltsicht eines Außenseiters zur Großtheorie hochzurechnen", "

fasst Andreas Rosenfelder in der Tageszeitung DIE WELT seine Leseeindrücke zusammen. Inhaltlich funktioniere die Abhandlung wie eine Aneinanderreihung von Wikipedia-Artikeln, für fast jeden Satz aus dieser "klebrigen Textmasse" lasse sich über Google eine mehr oder weniger obskure Quelle finden.

" "Selbst an der Hochschule für digitale Autodidakten hätte man dafür keinen Doktortitel bekommen", "

meint Rosenfelder. Trotzdem empfiehlt er die Lektüre. Der Text zeige, wie "paranoides Systemdenken unter den Bedingungen des Internetzeitalters" aussehe:

" "Das scheinbar futuristische Manifest des norwegischen Massenmörders", "

so heißt es in der WELT,

" "zeigt uns das Gehirn eines Menschen als Filter für den Wahnsinn unserer Tage."

Doch worum geht es in diesem "terroristischen Bildungsroman" eigentlich? Positionen sind auf den ersten Blick nur schwer auszumachen, unter anderem finden sich Zitate aus dem linken Kanon. Detlef Kuhlbrodt hat Verweise auf die Frankfurter Schule, auf den Dekonstruktivismus und Derrida gefunden:

"Man liest Passagen über Autoren und Themen, die man selber studiert hat", "

stellt er in der TAZ fest, und man

" "fühlt sich dabei unsittlich berührt". "

Tatsächlich orientiere sich der Rechtsradikale Anders Behring Breivik an den "linguistischen Codes seiner Gegner", behauptet der Berliner Rhetorik-Experte und Politikberater Hans Hütt in der FRANKFURTER ALLGEMEINEN ZEITUNG. Der Wahnsinn hat Methode: Der Attentäter vermeide in seinem sogenannten Manifest "historisch befleckte" Wörter wie "Rasse" oder "Ethnie", und spreche lieber von "muslimischer Einwanderung" und der drohenden "Islamisierung" Europas.

" "Breivik hat die Marketingidee verinnerlicht: schwellenfreier Zugang zu indiziertem Stoff. Nicht im rhetorischen Flecktarn der alten Kampfbegriffe auftrumpfen, sondern Umwege finden", "

formuliert Hütt in der FAZ:

" "Sein Produkt ist der auf 1516 Seiten niedergelegte innere Monolog aus der gesellschaftlichen Mitte, ein Echo der endlosen Tiraden gegen die Welt, wie sie ist, ein Echo aus den Foren in den Weiten des Netzes."

Der Attentäter von Oslo und Utoya ist kein Extremist, und er ist auch keine Romanfigur. Er ist einer von uns.