Von Jens Brüning

Auch der Fußball hält Einzug im Feuilleton. So erklärt beispielsweise die „Zeit“, dass Public viewing Aufbahrung heißt. Außerdem in den Feuilletons: der 125. Geburtstag von Franz Kafka.
„Englisch können die meisten immer noch nicht“, lasen wir in der wie üblich am Donnerstag erschienenen Wochenzeitung DIE ZEIT. Ulrich Greiner formulierte dieses Urteil im Zusammenhang mit dem Hauptereignis der vergangenen Woche, dem allüberall in Europa praktizierten öffentlichen Betrachten von Großleinwänden im Rudel. Und wie kam Greiner in diesem Zusammenhang darauf, dass die anglistischen Kenntnisse der Mehrheit beklagenswert seien? „Public viewing heißt Aufbahrung“, wurde uns zu unserem Vergnügen in Erinnerung gebracht.

Tiefgründig ist das Werk des Prager Autors Franz Kafka, dessen 125. Geburtstag in der kommenden Woche begangen wird. Erste Artikel erschienen schon in der vergangenen Woche, so zum Beispiel in der TAGESZEITUNG, der TAZ, in der Dirk Knipphals jüngste Neuerscheinungen kommentierte. Er bedankte sich für die Hilfe der gelehrten Kafka-Forscher:

„Kafka lesen ist oft beunruhigend genug; die Vorstellung, mit seinen funkelnden Dunkelheiten von der Sekundärliteratur gänzlich allein gelassen zu werden, hätte geradezu etwas Erschreckendes.“

Aus der Sekundär-Lektüre hat Dirk Knipphals von der TAZ diese Erkenntnis gewonnen:

„Franz Kafka verliert rein gar nichts, wenn man sein Bild weg von einem Heiligen der Literatur und hin zum Normalen schiebt, im Gegenteil.“

Dieses Schieben besorgt Volker Hage im kommenden SPIEGEL anhand der neuen Biografie über Franz Kafka, die Rainer Stach im S. Fischer-Verlag veröffentlichte.

„Der einst als verklemmt geltende Autor von Weltrang erscheint auch als Liebhaber der Frauen in anderem Licht.“

So die Lektüre-Erfahrung, wiedergegeben im SPIEGEL Nummer 27. Rainer Schmitz schreibt im FOCUS Nummer 27 über Franz Kafka:

„Ein Leben, das geprägt war von Existenzangst und unterschwelligem Grauen, das aber auch Zeitgeschichte spiegelt: Vor dem Ersten Weltkrieg war Kafka ein Prager Jude mit österreichischem Pass, nach der Revolution Tscheche.“

Die Mannschaft der gegenwärtigen Tschechischen Republik schied in der ersten Runde der Fußball-Europameisterschaft aus. Nicht darauf gemünzt, aber durchaus passend, rief Ingeborg Harms Franz Kafka zum Zeugen auf, als sie am Donnerstag ihre Hymne in der FRANKFURTER ALLGEMEINEN ZEITUNG auf den inzwischen ebenfalls nicht im Finale stehenden russischen Stürmer Andrej Arschawin so begann:

„Die verrücktesten Momente dieser Europameisterschaft lassen an einen Satz Franz Kafkas denken: ‚Es gibt ein Ziel, aber keinen Weg; was wir Weg nennen, ist Zögern.’“

Dass Franz Kafka gern beim Fußball zusah, gar begeisterter Anhänger des jüdischen Fußballklubs Hakoah Wien war, sei hier eingeflochten. Denn man kann einfach nicht schlau genug sein, wenn einem nicht passieren soll, was ausgerechnet beim Spiel der Mannschaft der Bundesrepublik Deutschland gegen die der Türkei dem Betrachter der ARD-Nachrichtenschau „Tagesthemen“ ins Auge fiel. Thomas Lindemann berichtete in der Tageszeitung DIE WELT:

„Während Moderator Tom Buhrow über das bevorstehende Spiel sprach, war im Hintergrund eingeblendet: Rot-Schwarz-Gold – eine Fantasieflagge anstelle der Farbkombination, die die Urburschenschaft um 1815 aufbrachte und die nach wie vor die einzig gültige Flagge der Bundesrepublik ausmacht.“

Ob man unbedingt mit Lindemanns Schlussfolgerung einig gehen muss, sei dahin gestellt. Wir lasen:

„Offenbar ist das Zeitalter der Nationalstaaten doch vorbei. Denn besonders tief sind ihre Symbole offenbar nicht mehr im allgemeinen Bewusstsein verankert.“

Möglicherweise sind sie auch überschattet von Wichtigerem, denn am nächsten Tag berichtete – ebenfalls in der WELT – der in Ankara geborene Berliner Zafer Senocak von seiner Fußballbegeisterung und den damit zusammenhängenden Gefühlswallungen: „Der Fußballgott ist sehr mohammedanisch“, lasen wir, „er ist gnadenlos.“

Das war wohl die Befürchtung der Feuilletonisten jeglicher Couleur, die dem türkisch-deutschen Duell auf dem grünen Rasen entgegenfieberten. In der FRANKFURTER ALLGEMEINEN ZEITUNG vom Dienstag gingen Karen Krüger und Jochen Hieber der bewegenden Frage nach:

„Wie werden sich am Mittwochabend die Fans der Verlierer verhalten?“

Ihre Diagnose:

„Es liegt eine Grundspannung über dem Land.“

Am Ende des Artikels über Türken in Deutschland gab es Entwarnung:

„Ausgetragen wird eine Art Lokalderby. Am nächsten Tag geht dann das Leben weiter.“

So kam es dann auch, wie Gustav Seibt, von der SÜDDEUTSCHEN ZEITUNG in die türkischen Ghettos von Berlin-Kreuzberg entsandter Reporter, recherchierte:

„Der Abend zeigte jene soziokulturelle Mischung, die Integrationsskeptiker, die das Türkenbanner nur als Menetekel für Deutschland verstehen, wohl nie sehen: Weiß-rot eingewickelte türkische Mädchen, die Bier aus der Flasche trinken, daneben lesbische Kuschelpärchen, ein Schwarzer und zwei deutsche Freunde, die aus Ghetto-Blastern fern von allen Bildschirmen Distanz signalisieren, neugierige Fellows vom Wissenschaftskolleg – ‚herzlichen Glückwunsch’ – kaum Polizei, und die ganz normalen Fantrauben vor den offenen Eingängen mit den großen grünen Rechtecken.“

Oder – wie Eva Menasse am Donnerstag in der ZEIT feststellte:

„Ein total infantiles Vergnügen zur Triebabfuhr, weil der Mensch, jedenfalls der demokratische, nicht immer klug und kontrolliert sein kann.“

„Kazanmak“ ist Türkisch und „heißt gewinnen“, lernten wir am Freitag aus der BERLINER ZEITUNG. Sabine Rennefranz erinnerte in ihrem Artikel außerdem daran:

„Italien hat seinen Aufstieg der Europäischen Gemeinschaft zu verdanken – da wollen auch die Türken hinein.“

Und so sind wir in einem eleganten Rundumgeblätter vom Sport schon wieder in der Politik gelandet, und das ist auch gut so. Denn am Sonntag lesen wir in der FRANKFURTER ALLGEMEINEN SONNTAGSZEITUNG in einer Betrachtung zum Thema „Fußball und die Frauen“ von Michael Althen:

„Sport ist heute ein natürliches Betätigungsfeld des Feuilletons wie Popmusik, Film und all das andere, was nicht den klassischen Künsten zuzurechnen ist.“