Von Jens Brüning

Die Streitschrift "Empört euch!" des 93-jährigen Stéphane Hessel hat in Frankreich die Auflage von einer Million erreicht. Das versetzt den deutschen Blätterwald ins Staunen. Die NZZ erinnert daran, dass in den USA seit den 60er-Jahren eine Million Menschen durch Schusswaffen umgekommen sind.
"Das gesamte Fundament der sozialen Errungenschaften der Résistance steht heute auf dem Spiel", lasen wir am vergangenen Sonntag in der FRANKFURTER ALLGEMEINEN SONNTAGSZEITUNG. Dieses Zitat ist aus der Streitschrift des inzwischen 93-jährigen Stéphane Hessel mit dem Titel "Empört Euch!" Man konnte auch lesen:

"Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs ging es um die Befreiung von Gefahren, die der Totalitarismus der Menschheit gebracht hatte. Dazu war es notwendig, dass die Vereinten Nationen sich zur Achtung universeller Rechte verpflichteten."

Stéphane Hessel war einer der Autoren der Menschenrechtserklärung der Vereinten Nationen, weiß also, wovon er schreibt. Seine Warnung, die am vergangenen Sonntag in Auszügen in der FRANKFURTER ALLGEMEINEN SONNTAGSZEITUNG abgedruckt wurden, gipfelte in dem Aufruf:

"Es ist höchste Zeit, dass die Sorge um Ethik, Gerechtigkeit und ein dauerhaftes Gleichgewicht in den Vordergrund tritt. Denn sonst drohen äußerst große Gefahren. Sie können den Planeten Erde für den Menschen unbewohnbar machen."

Von dem dünnen Heft, in dem Hessel seinen Sorgen Ausdruck gab, sind inzwischen beinahe eine Million Exemplare verkauft worden. Arno Widmann nahm das am Dienstag in der FRANKFURTER RUNDSCHAU zum Anlass, dieses Phänomen mit einem hiesigen zu vergleichen:

"Dort wird ein Aufruf für Immigranten, gegen soziale Ausgrenzung zum Bestseller des Jahres 2010. Bei uns war es der ebenso emotionale, aber mit buchhalterischer Verbissenheit vorgetragene Aufruf gegen Immigranten und für soziale Ausgrenzung von Thilo Sarrazin."

Für die Tageszeitung DIE WELT machte sich Sascha Lehnartz auf den Weg zu Stéphane Hessel:

"Niemand ist derzeit in Frankreich gefragter als Stéphane Hessel."

Der Diplomat im Ruhestand empfing ihn im gepflegten Dreiteiler und gab die allgemeine Stimmung auf der Welt zum Besten:

"In fast allen Ländern ist man ein wenig unglücklich über die Regierungen, nicht nur in Frankreich."

In der SÜDDEUTSCHEN ZEITUNG machte Alex Rühle am Mittwoch darauf aufmerksam:

"Hier spricht nicht irgendein Idealist, sondern ein Zeitzeuge biblischen Alters, ein Befreier des eigenen Landes und späterer Spitzendiplomat."

Und in der Wochenzeitung DIE ZEIT meinte Gero von Randow:

"Frankreichs Empörungspotenzial ist von anderem Kaliber als die latente Hysterie, die deutsche Bürger gegen Bahnhofsplanungen zum ‚Widerstand’ aufrufen lässt."

Von Randow konnte allerdings auch nicht umhin, darauf hinzuweisen, dass der Sohn eines jüdischen Vaters sich auch mit denen gemein mache, die wider Israel predigen. Stéphane Hessel habe "im Sommer 2010 zum Boykott israelischer Waren aufgerufen".

Inzwischen aber ist das merkwürdige Phänomen aufgetaucht, dass sich in Tunesien die Menschen über ihre Regierung empören und den Staats-Diktator gar zum Teufel jagen konnten, auf dem europäischen Festland aber alles recht beschaulich und unaufgeregt bleibt. Sascha Lehnartz kommentierte das in der Sonnabend-Ausgabe der Tageszeitung DIE WELT:

"Die Tunesier empören sich, wir lesen die Bücher dazu. Theoretisch sind wir ganz gern für die Freiheit."

Grenzenlos soll die Freiheit in Nordamerika sein. So steht es dort in der Verfassung, und zwar in deren erstem Zusatzartikel. Im zweiten Zusatzartikel ist geregelt, dass jeder Amerikaner eine Waffe haben darf. Daraus erwächst manches Problem, wie nun wieder in Tucson, Arizona, offenbar wurde.

Ein als "verrückt" bezeichneter junger Mann schoss auf die demokratische Kongressabgeordnete Giffords und tötete sechs in ihrer Nähe stehende Menschen. Die Medien warfen sich daraufhin gegenseitig vor, zur aufgeheizten Stimmung beigetragen zu haben.

Nina Rehfeld wusste am Donnerstag in der FRANKFURTER ALLGEMEINEN ZEITUNG zu berichten:

"Provokationen und Halbwahrheiten, Instant-Meinungen und Emotionen, nicht mehr Fakten und Hintergründe sind Trumpf."

In der SÜDDEUTSCHEN ZEITUNG vermutete Jörg Häntzschel,

"dass Millionen Amerikaner, die nicht alle verrückt sein können, sofort unterschreiben würden, was der Attentäter vor dem Massaker in seinen YouTube-Videos verbreitet hat."

Es wurde am Donnerstag viel davon in der "SZ" zitiert. Und Häntzschel vermutete, dass sich in den USA inzwischen eine gewalttätige Subkultur etabliert hat:

"Einsame Wölfe und kleine Terroristenzellen, die gewalttätige, rechtsextreme Ideologien vertreten."

Am Freitag resümierte Andrea Köhler in der NEUEN ZÜRCHER ZEITUNG:

"In den USA sind seit Ende der sechziger Jahre mehr als eine Million Menschen durch Schusswaffen umgekommen."

Seit Jahresbeginn sitzt Ungarn turnusmäßig dem Rat der Europäischen Union vor. Kurz zuvor erließ die Regierung des rechtskonservativen Ministerpräsidenten Viktor Orban von der Fidesz-Partei ein Mediengesetz, das in der vergangenen Woche häufiger Gegenstand der Berichterstattung und Kommentierung war. Am Dienstag lasen wir in der SÜDDEUTSCHEN ZEITUNG:

"Es stellt die Zensur wieder her, missachtet das Prinzip der Gewaltenteilung, widersetzt sich mit allen Mitteln den Grundprinzipien der Demokratie und dem Geist der Freiheit."

In Ungarn macht sich Angst vor staatlichen Eingriffen breit. Aber Hoffnung gibt es auch, wie wir der neuesten Ausgabe der FRANKFURTER ALLGEMEINEN SONNTAGSZEITUNG entnehmen können:

""Wörter bekommen besondere Bedeutung, wenn sie verboten sind. Durch schnelle Entscheidungen könnte der Medienrat neue Helden schaffen und eine Opposition hervorbringen, damit sich die Fidesz-Leute im Parlament nicht zu Tode langweilen."