Von Impfprogrammen, Nacktheit und Geburtenzangen

Die Schilder leuchten gelb. Gut sichtbar hängen sie neben Betten und Waschbecken. Ihre Botschaft scheint simpel: "Bitte Hände waschen!" Wenn Ärzte und Pflegepersonal sich konsequent daran hielten, könnten sie Leben retten.
Aber sie tun es nicht. Allein in den USA ziehen sich jährlich zwei Millionen Amerikaner während eines Krankenhausaufenthaltes eine Infektion zu; 90.000 sterben daran. Die wichtigste Ursache: mangelnde Hygiene der Krankenhausmitarbeiter.

In seinem neuen Buch "Über Leben und Tod - für eine bessere Medizin" lotet der amerikanische Arzt und Autor Atul Gawande den modernen Medizinbetrieb aus. Seine Themen scheinen auf den ersten Blick peripher: Impfprogramme, Kriegsverletzungen, Nacktheit, Geburtenzangen. Doch der Autor entwickelt daraus ebenso verwirrende wie ergreifende Erkenntnisse über das moderne Krankenhaus und die Lage von Ärzten und Patienten, über Heilen, Hoffen und Moral.

Nacktheit und Medizin. Das ist so ein Aspekt, über den man selten etwas liest. Aber er betrifft jeden, der zum Arzt geht, und die Ärzte nicht minder. Akribisch befragt der Autor Kolleginnen und Kollegen im In- und Ausland. Wann bitten sie ihre Patienten, sich zu entkleiden? BH-Träger runter, Hemd hochkrempeln, reicht das? Oder muss es der nackte Oberkörper sein? Machen Ärzte in Großbritannien es anders als in den USA? Im Iran anders als in Mexiko? Wann zieht ein männlicher Arzt bei der Untersuchung einer Frau eine weibliche Beobachtungsperson mit hinzu? Mit welcher Begründung stellt er sie vor? Und wie fühlt sich die Patientin damit? Eher gut aufgehoben? Oder noch nackter?

Für das Kapitel "Händewaschen" heftet sich der Chirurg wochenlang an die Fersen der beiden Hygienebeauftragten seines Krankenhauses und schaut zu, wie sie Warnhinweise immer größer gestalten, mobile Händewaschwagen anschaffen, Kinofreikarten für gute Hygieneleistungen verlosen. Alles vergebens. In der Klinik grassieren Erreger und das Personal ändert sich nicht. Warum?

Die Medizin ist eine komplexe, widersprüchliche, mächtige und fehlerbehaftete Veranstaltung, sagt Atul Gawande. Ärzte und Pflegende sind in den seltensten Fällen faul, aber oft überarbeitet. Sie wollen nicht töten, keine Kunstfehler begehen, keine Fehldiagnosen stellen, keine moralischen Grenzen überschreiten. Aber sie tun es. Gefängnisärzte mutieren, ohne sich dessen gewahr zu werden, zu Mit-Vollstreckern der Todesstrafe. Der Chirurg lässt eine Schere im Darm zurück oder amputiert das falsche Bein. Ein Patient streckt seiner Ärztin zur Begrüßung die Hand entgegen und sie greift zu, um nicht unhöflich zu wirken oder weil sie andere Dinge im Kopf hat, wichtige, unwichtige. Egal wie viele Schilder an den Wänden hängen.

Atul Gawande nimmt keine journalistische Außenperspektive ein, klagt nicht an, hält sich mit Vorschlägen bedeckt. Er erzählt. Starke, tragische, empörende, komplexe Geschichten. Als Arzt erlebt er die Widersprüche des Medizinbetriebes und zimmert selbst daran mit. Als Autor schreibt er große Medizin-Literatur.

Über den Autor:
Atul Gawande wurde 1965 als Sohn eines Ärzteehepaares geboren. Er studierte zunächst Philosophie und Ethik und schließlich Medizin an der Harvard Medical School. Heute arbeitet er als Facharzt für Chirurgie an einer Klinik in Boston, lehrt an mehreren amerikanischen Hochschuleinrichtungen und ist Leiter eines Checklisten-Programms der Weltgesundheitsorganisation für sichere Chirurgie. Atul Gawande schreibt regelmäßig Beiträge zu medizin-ethischen Themen in "The New Yorker" und veröffentlichte vor einigen Jahren mit großem Erfolg das Buch "Die Schere im Bauch - Aufzeichnungen eines Chirurgen".

Besprochen von Susanne Billig

Atul Gawande: Über Leben und Tod - Für eine bessere Medizin
Aus dem Amerikanischen von Gabriele Zelisko
btb Verlag, München 2010
304 Seiten, 19,95 Euro