Von Hooligans, Fabrikbesetzungen und Kidnapping

Von Wolfgang Martin Hamdorf · 27.04.2010
Ein kleines Mädchen sitzt auf der Rückbank im Auto, es weiß noch nicht, dass es entführt worden ist. Vor ihm sitzen die Kidnapper. Der eine hat einen Wolfskopf aus Plüsch aufgesetzt, der andere spielt den Hasen:
Skurriler Humor auch in den dramatischsten Momenten gekoppelt mit wunderbar natürlichen Darstellern ist die besondere Stärke des georgischen Films "Street Days". Er wurde dieses Jahr mit der Goldnen Lilie ausgezeichnet.

Das Spielfilmdebüt des 36-jährigen Regisseurs Levin Koguashvili führt in die georgische Hauptstadt Tiflis; in ein Stadtviertel, in dem Arm und Reich, sozialer Aufstieg und Verelendung auf Engstem beieinander liegen. Ein Stadtviertel geprägt vom Zerfall sozialer Strukturen und von fiebrigen Aufstiegsträumen. Ein eher sympathisch-gutmütiger Drogenabhängiger gerät in die politische Intrige korrupter Polizisten. Aber der Protagonist entzieht der immer stärkeren Verstrickung und erschießt sich. Im Hintergrund läuft noch der Fernseher mit den Schwarz-Weiß-Bildern einer alten sowjetischen Wochenschau mit den Fortschrittsversprechen von vorgestern.

Die zehn Spielfilme im Wettbewerb setzten sich auf ganz unterschiedliche Weise mit den sozialen Umbrüchen auseinander: Von neofaschistischen Hooligans in der kroatischen Hauptstadt Zagreb bis zur Fabrikbesetzung durch Arbeitslose in der serbischen Provinz hin zu einem alten Mann in Bukarest, der über eine irrtümlich verliehene Ehrenmedaille ein neues Selbstbewusstsein erhält.

Filmemacher aus Ost- und Mitteleuropa verdeutlichen gesellschaftliche Transformationen ihrer Heimatländer über individuelle, private Schicksale vor einem unverwechselbaren sozialem Hintergrund. Dabei geht bei vielen die Aufarbeitung einer dunklen Vergangenheit mit einer düsteren Bestandsaufnahme der Gegenwart Hand in Hand. In der polnisch-deutschen Produktion "Piggies" verkauft sich ein polnischer Junge im Grenzgebiet an deutsche Freier, damit seine Freundin sich die Zähne richten lassen kann. Für den 57-jährigen Regisseur Robert Glinski beschreibt sein soziales Drama über Kinder- und Jugendprostitution nicht nur eine Generation, die verzweifelt und mit allen Mitteln um materiellen Wohlstand kämpft, sondern auch die moralische Entwurzelung seiner Gesellschaft:

"Die polnische Gesellschaft hat sich seit 1989 sehr stark verändert. Viele dieser Änderungen waren sehr, sehr gut, aber andere eben nicht. Ich denke, als Filmemacher muss ich auf diese negativen Seiten hinweisen, auf Verhaltensweisen und Werteentwicklungen hinweisen, die wirklich schlecht sind, die entstanden sind auch durch eigentlich grundsätzlich gute Veränderungen."

Robert Glinskis Sozialdrama beeindruckt besonders durch den jugendlichen, fast noch kindlichen Hauptdarsteller in einem durchweg dunklen Umfeld. Bezeichnend für andere Filme aus Ost- und Mitteleuropa ist dagegen die Beschreibung deprimierender sozialer und politischer Verhältnisse über einen ganz spezifischen schwarzen Humor und das hat eine lange Tradition: Mit der großen Bandbreite des "sozialistischen Lachens" beschäftigt sich das filmwissenschaftliche Symposium.

Unter dem Titel "Das befreiende Lachen – eine kurze Geschichte des osteuropäischen Filmhumors" fragte es unter anderem nach der subversiven Kraft der Filmkomödie in den sozialistischen und postsozialistischen Gesellschaften in den letzten 50 Jahren. Die Filmwissenschaftlerin Oksana Bulgakowa hat das Symposium organisiert und unterstreicht die Ventilfunktion des Humors auch über den Fall des eisernen Vorhangs hinaus:

"Und Komödie ist stets auf einem Konflikt gegründet und dieser Konflikt hat eine explosive Kraft, also das ist etwa Konflikt zwischen Tat und Realität, Sehnsucht und Handlung. Aber auch, also das ist Anstoß und Infragestellungen von allem, also Regeln, Kanonsysteme, Machtansprüche. Und man lacht darüber immer noch und manchmal schärfer. Die Befreiung in diesem Sinne findet nicht statt, weil alle Widerstände, die davor waren, haben jetzt nur ein anderes Antlitz bekommen. Also Lachen ist uns erhalten geblieben in diesem Sinne."

Mit filmhistorischen Veranstaltungen, dem aktuellen Wettbewerb und einem Preis für Hochschulfilme hat Wiesbaden in zehn Festivals immer die Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft des mittel- und osteuropäischen Films zusammen gebracht. Dabei ist der Begriff weder geografisch noch politisch eindeutig festlegbar, sondern muss immer wieder den sozialen und politischen Veränderungen angepasst werden: von der EU-Ost-Erweiterung bis zu den Unabhängigkeitskriegen im Kaukasus. Claudia Dillmann, Gründerin des Festivals und Leiterin des deutschen Filminstituts:

"Was sie miteinander verbindet in meinen Augen, nach wie vor, ist natürlich, dass sie den Transformationen, gesellschaftlichen, kulturellen, politischen, wirtschaftlichen allesamt auf eine unglaubliche Weise unterworfen waren in den letzten 20 Jahren und natürlich ihre je eigene Ausprägung haben, wie sie jetzt mit diesen Transformationen umgegangen sind. Vom Krieg, über Revolution bis hin zu dem Versuch, sich relativ geschmeidig anzupassen. Das ist hoch spannend, nach wie vor."

Diese Vielfalt zeigte sich auch im Dokumentarfilmwettbewerb. Hier ging der Hauptpreis nach Israel, eigentlich kein Terrain des ost- und mitteleuropäischen Films. Aber "Oy Mama" erzählt von einer immer noch beeindruckend vitalen Überlebenden des Holocaust, die von Polen über Peru nach Israe gelangte. Die 21-jährige Israelin Noa Maiman knüpft mit diesem Porträt ihrer Großmutter auch an ihre eigenen ost- und mitteleuropäischen Wurzeln an:
"Ich fühle mich auch als Osteuropäerin. Meine Familie kommt teilweise aus Rumänien, Litauen, Polen und Deutschland. Ich fühle mich also in diesem Rahmen sehr wohl. Ich kann mir schon vorstellen, dass mein Film hier aus dem Rahmen etwas heraus fällt, aber er erzählt ein Geschichte, die ganz eng mit Ost- und Mitteleuropa verbunden ist."

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