Von Homer bis Alexander

Vorgestellt von Alexander Schuller · 25.12.2006
Gibt es in der Geschichte Europas den einen oder auch den anderen Moment, in dem alles entschieden war, den Urknall? Natürlich gab es den und er dauerte 500 Jahre: von 800 bis 300 vor Christus. Diese 500 Jahre umfassen jene Phase, in der Griechenland in seiner klassischen Blüte stand.
Mit Homer, dem Dichter, begann es und mit Alexander, dem Makedonier, kam es zu seinem eruptiven Ende. Alles danach ist Nachfolge, gelungene Nachfolge oft genug, brillante Nachfolge sogar, aber eben Nachfolge.

Rom, das große Rom, die italienische Renaissance, die Erfindung, die Neu-Erfindung der Wissenschaft in der deutschen Universität des 19. Jahrhunderts, ohne Griechenland nicht denkbar. Wir sind - das jedenfalls ist die kühne These von Konrad Adams Buch - bis heute Altes Europa, Altes Griechenland. Dieses Erbe sei vergessen und doch wirkungsmächtig, fast wie am ersten Tag. Adam beschreibt das alles wie nebenbei: gelassen, gebildet, gründlich, durchaus mit Bezügen zur Gegenwart und sehr spannend. Mit dieser Lektüre erübrigt sich eigentlich die Frage nach der - zumindest europäischen - Leitkultur. Sie ist griechisch: klassisch und kraftvoll, widersprüchlich und wild.

Bezeichnenderweise beginnt Adam mit der Sprache der Griechen, die ein in modernen Sprachen nie erreichtes Höchstmaß an Genauigkeit und Phantasie ermöglichte. Die Griechen…

"…waren die Ersten, die den Menschen als sprachbegabtes Lebewesen definierten. Da man höchst unvernünftig reden und sehr vernünftig schweigen kann, enthält der Begriff aber mehr als nur die Fähigkeit, zu sprechen; er erinnert daran, dass Sprache sowohl Voraussetzung als auch Folge des Vernunftgebrauchs, des Denkens ist. Die Grenzen meiner Sprache sind die Grenzen meiner Welt, hat der Philosoph Ludwig Wittgenstein einmal gesagt und damit eine Einsicht formuliert, die für die Griechen selbstverständlich war. Beides, Weltbild und Ausdrucksfähigkeit, kam für sie in einem einzigen Begriff zusammen, im Wort "logos. Ohne Sprache keine Kultur. Auch das haben die Griechen gewusst." (S. 15-16)

Das Wenige, das der halbgebildete Zeitgenosse von den Griechen weiß, bezieht sich fast immer auf die Sagen- und Mythenwelt: Zeus, Apoll, Aphrodite, diese Namen kennt man und kann sich in ihnen auch wieder erkennen. Wie wir Menschen, so lieben und bekämpfen, betrügen und verführen die griechischen Götter einander. Verlass ist auf sie nicht. Es gibt keinen allmächtigen, unnahbaren und moralischen Gott.

Auch die Vortrefflichkeit, ein Schlüsselwort der griechischen Kultur, ist keineswegs moralisch aufgeladen. (S. 33)

Charakteristisch für die Griechen ist nämlich ihre…

"…Abneigung gegen das moralisierende Urteil. Mit der Moral von der Geschichte kamen die Griechen, wenn überhaupt, immer erst ziemlich spät. Sie stellten fest und sie stellten dar; ihre bevorzugte Geste ist ....der nüchterne Hinweis: so ist der Mensch, so spielt das Leben, so geht die Geschichte. Die Höhen und Tiefen, die Gründe und Abgründe, die Leistungen und Verstiegenheiten der menschlichen Natur haben sie mehr interessiert als die Frage, wie all das zu bewerten sei."" (S. 31-32)

Wenn von Demokratie die Rede ist, dann ist das Wort selbst schon griechisch. Die Demokratie haben die Griechen, genauer die Athener, ganz eigentlich erfunden. In keiner Kultur, in keiner Tradition gibt es etwas Vergleichbares. Volksversammlung, unabhängige Gerichtsbarkeit, Rechenschaftspflicht der Politiker, das alles ist griechisches Erbe. Alles was wir treiben im Bundestag oder im Bundesrat, vor dem Bundesverfassungsgericht - all das hat ein griechisches Vorbild. Wenn die Griechen sich in Sachen Moral eher locker gaben, in der Politik waren sie gnadenlos.

"Aristoteles spricht auch hier für seine Landsleute, wenn er den Staat "ursprünglicher" nennt als den Einzelnen. Der moralischen Behauptung, der Staat sei für den Menschen da, nicht umgekehrt, hätte er widersprochen und gefragt, ob denn nicht beide füreinander da wären. Dieser Gedanke hat die Griechen zu Erfindern der Politik gemacht: Politik als angewandtes Wissen um die Vorzüge der Gemeinschaft ."(S. 63-64)

Die Griechen waren erfüllt von einer geradezu hemmungslosen Lebenslust, in die Liebe verliebt und in das schnelle, geschliffene Argument, in die Schönheit, auch die eigene. Sie waren schamlos und anmaßend und laut. Sie liebten das Leben, aber auch den Tod, und beide mit der gleichen Verwegenheit. Aber über ein Buch mit dem Titel "Prinzip Hoffnung", wie Ernst Bloch eines geschrieben hat, hätten sie sich ausgeschüttet vor Lachen. Für diese tieftraurige Lebenslust steht der Mythos der Pandora…

"…die Allbegabte, eine schöne junge Frau, die ihren Namen deshalb trägt, weil sie von allen Göttern beschenkt worden war…allerdings mit einer Büchse, die alle jene Verletzungen, Grausamkeiten und Schrecken enthielt, wovon die Menschheit bislang verschont geblieben war.

Leichtfertig und neugierig wie sie ist, öffnet Pandora das Faß und die Übel entfliehen, verbreiten sich über die gesamte Erde und bestrafen die Menschen." (S.184)

Ein optimistisches Weltbild ist das nicht; so etwas haben die Griechen nicht zu bieten. Was ihre Haltung zur Welt und zum Leben bestimmte, war eine Art fröhlicher Skepsis...

"…eine harte und gesunde Skepsis, die mit dem Zweifel den Entschluss verbindet, die Sache trotzdem zu riskieren. Wenn irgendetwas, ist die Bereitschaft, im Unglück der anderen das eigene Unglück zu erahnen und wenn es gut geht zu vermeiden, das Vermächtnis der griechischen Kultur. Sie ist misstrauisch gegen die großen und definitiven Lösungen, die bei den Weltbildproduzenten der Moderne so hoch im Kurs stehen." (S. 186-187)

Aus der Geschichte lernen, aus der griechischen zumal? Wie soll das gehen? Das ist für irgendeine hilfreiche Lektion viel zu weit. Das versucht dieses Buch auch gar nicht. Weder die griechischen Verlockungen noch die griechischen Bedrohungen betreffen uns unmittelbar - und doch: Dieser Rausch, dieser Mut, diese Gelassenheit… richtig cool.


Konrad Adam: Die alten Griechen,
Rowohlt Verlag, Berlin 2006