Von hoffnungslosen Krebsen

23.03.2009
So lange es Schule gibt und geben wird, dauern wohl auch die Versuche, ihren stigmatisierenden Charakter abzuschaffen oder zumindest zu mildern. Diesem Thema widmet sich auch der Schriftsteller und Lehrer Daniel Pennac. Seine Protagonisten sind die sogenannten schlechten Schüler. Er nennt sie Krebse, weil sie immer auf seitlichen Abwegen laufen müssen.
Noch ein Buch über Schule? Wer Daniel Pennac kennt, weiß, dass seine Ideen verblüffend sind. Gleich zu Beginn seiner autobiografischen Erzählung outet er sich als schlechter Schüler und stellt fest, dass seine Mutter sich von diesem Trauma nie erholt hat. Fast hundertjährig fürchtet sie noch immer um die Überlebensfähigkeit ihres Sohnes, der nicht nur ein Viertel-Jahrhundert lang als Lehrer gearbeitet hat, sondern auch ein erfolgreicher und gut situierter Autor ist.

Der 1944 in Casablanca geborene Pennac hat unter anderem auch Kinder- und Jugendbücher sowie Comics veröffentlicht. Für "Schulkummer" erhielt er 2007 den renommierten Prix Renaudot. Er lebt in Paris.

Daniel Pennac liebt die Literatur und weiß sich ihrer Feinheiten zu bedienen. "Schulkummer" schließt sich stilistisch an sein Erfolgsbuch "Wie ein Roman" an. In kurzen prägnanten Kapiteln macht er den Leser vertraut mit der Welt der sogenannten schlechten Schüler, die er lieber - aus dem Französischen kommend - Cancre nennt.

Cancre heißt Krebs in seinen beiden Bedeutungen: Der Cancre als Schüler läuft wie ein Krebs immer auf seitlichen Abwegen, wenn es um das Lernen geht - und er fühlt sein Versagen wie eine unheilbare Krankheit, eine bösartige Geschwulst, die ihn lähmt und hoffnungslos vor sich hin vegetieren lässt.

Der Schüler Pennac hat dieses Gefühl über Jahre selber erlebt. Er hat mehrfach die Schulen gewechselt und zahlreiche Anläufe genommen, bis er endlich das Abitur bestanden hat. Durch seine eigene Betroffenheit lotet er den Kummer der Cancres zielsicher aus und zeigt, dass ein Rest dieser Verletzung das ganze Leben andauert.

Der Autor Daniel Pennac bleibt immer direkt am Geschehen und beschreibt nicht nur viele Missstände in Schulen, sondern auch gelungene Unterrichtsstunden. Um den Cancre aus der Isolation zu holen, bedarf es Lehrer, die sich des Schülers annehmen und ihm vermitteln, dass Lernen Freude machen kann, wenn man sich voll und ganz jetzt damit beschäftigt. Wie oft hört der Cancre, der mal wieder seitwärts läuft: "Das machst du mit Absicht."

Lehrer Pennac geht der Sache auf den Grund. Was verbirgt sich hinter diesem "das"? Grammatikalisch gesehen: ein akkusativisches Demonstrativpronomen. Erst wenn man die Grammatik analysiert, lässt sich feststellen, was Sätze wirklich aussagen wollen und können.

Daniel Pennac vertraut der Sprache. Sein Titel "Schulkummer" - und nicht Schulleid oder -trauer - zeigt die wesentliche Dimension seiner Aussage. Kummer lähmt nicht vollständig, sondern lässt hoffen. Unser Kummer bleibt in der Erinnerung und lässt uns zu mitfühlenden Personen werden für diejenigen, die ähnlichen Kummer erleben.

Der Pädagoge Pennac fordert Lehrveranstaltungen über das Nichtwissen für Lehrer. Er sieht die Unfähigkeit vieler Lehrer, das Unwissen von Schülern in ihrem Fach zu verstehen, denn schließlich unterrichten sie meistens das, was sie gut können und schon selber als Schüler gut gekonnt und gemocht haben.

Der Legastheniker Pennac verführt mit seiner Poesie den Leser dazu, sich nicht zuletzt Gedanken über Grammatik zu machen, dabei unweigerlich an die eigenen ungeliebten Schulstunden zu denken und schließlich wehmütig festzustellen, was man alles bei einem guten Lehrer hätte lernen können.
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Schließlich steht über allem die Liebe zum Menschen - was für einen Lehrer heißt, jeder Schüler kann etwas lernen, denn "es gibt keinen hoffnungslosen Fall".

Rezensiert von Birgit Koß

Daniel Pennac: Schulkummer
Aus dem Französischen von Eveline Passet
Kiepenheuer & Witsch, Köln, 2009
288 Seiten, 18,95 Euro