Von Hans von Trotha

Das Feuilleton freut sich mit der Schriftstellerin Sibylle Lewitscharoff, die in diesem Jahr mit dem Georg-Büchner-Preis geehrt wird. Die "FAZ" berichtet, dass das türkische Fernsehen die landesweiten Demonstrationen totschweigt und Claudia Tieschky fordert in der "SZ", dass die Netzneutralität zum Thema in diesem Wahlkampf werden müsse.
Alljährlich zwingt die Darmstädter Akademie für Sprache und Dichtung die Literaturfachleute unter den Feuilletonisten, eine Schriftstellerin oder einen Schriftsteller zu würdigen, indem sie ihr oder ihm mit dem Büchnerpreis die renommierteste deutsche Literaturauszeichnung zuspricht. Nicht immer sind sich alle so einig wie in diesem Jahr, dass Darmstadt gut entschieden hat.

Für Dirk Knipphals von der TAZ ist Sibylle Lewitscharoff

"die Favoritin derjenigen Leserinnen und Leser, die unter Literatur orchestrierte Sprachkunstwerke erwarten."

Gregor Dotzauer gesteht im TAGESSPIEGEL, er würde ihre Sätze gern unters Mikroskop legen, und schreibt:

"Eine Jean Paul'sche Wortfindungsbesessenheit ist da am Werk, deren Wucherungen zugleich von einer lutherischen Prägnanz im Zaum gehalten werden, und Robert Walser'sche Lieblichkeitsexerzitien stehen neben terrierhaften Bosheitsattacken."

Man beachte die Steigerung: Jean Paul´sch, lutherisch, Robert Walser´sch, terrierhaft.

"Bis aufs Messer komisch", findet die FAZ die Gepriesene und kann es als einziges Blatt nicht lassen, an diesem eigentlich Suhrkamp-freien Tag den gebeutelten Verlag doch wieder ins Spiel zu bringen.

Andreas Platthaus will erfahren haben, "dass am Ende gleich drei Suhrkamp-Autoren das Rennen unter sich ausgemacht haben sollen", und bilanziert:

"Zumindest die Akademie setzt derzeit also mindestens ebenso massiv auf Frauen in der Literatur wie auf Suhrkamp. Schön."

Tilman Krause findet die Wahl auch schön und versucht, den Darmstädtern gleich den nächsten Preisträger unterzujubeln: "Und wir", schreibt er in der WELT,

"die wir unter der Wirkung der guten Nachricht stehen, vernehmen die Darmstädter Botschaft und deuten sie wie folgt: Literatur ist preiswürdig, wenn sie die Wirklichkeit transzendiert. Das lässt sich hören. Und wenn man diese Linie weiter ausziehen will, empfiehlt es sich, im nächsten Jahr an Rainald Goetz zu denken."

Das wäre dann wieder Suhrkamp. Aber keine Frau.

Um die Wirklichkeit transzendieren zu können, müssen wir allerdings erst einmal wissen, was die Wirklichkeit ist. Für die Gegenwart haben wir dazu die Journalisten, für die Vergangenheit die Historiker. Beiden ist nicht unbedingt zu trauen. Rettung winkt im Netz.

Karen Krüger berichtet in der FAZ, dass das türkische Fernsehen die landesweiten Demonstrationen totschweigt.

"Einzig ein kleiner Fernsehsender namens Halk-TV", schreibt Krüger, "schickte ein Kamerateam ... und berichtete rund um die Uhr." Die Demonstranten würden den Sender nun "als einziges Medium im Land" feiern, "das sich noch nicht zum Handlanger der Regierung gemacht hat".

Ganz uninformiert waren die Türken aber auch vorher nicht. "Rund um den Taksim-Platz", so Krüger weiter,

"haben einige Läden ihre WiFi-Netzwerke freigegeben. ... Über Twitter ersetzen die Demonstranten die fehlende Berichterstattung lokaler Medien."

Der Ritterschlag erfolgte prompt - Ministerpräsident Erdogan sagte der Zeitung HÜRRIYET:

"Es gibt da diese neue Bedrohung namens Twitter. Man findet dort unvorstellbare Lügen. Für mich ist Twitter der größte Unruhestifter für heutige Gesellschaften."

Zumindest für diejenigen, die Gesellschaften nach ihrem Gutdünken lenken wollen, könnte es ein Unruhestifter von Rang werden.

In Russland wird man wohl bald gegen die Geschichtsbücher antwittern müssen. Unter dem Titel "Zurück zur Heldensage" hat die WELT Wladimir Putins Sorge um eine neue "offizielle Bewertung der Geschichte" zum Thema. "Bis zum 1. Dezember", berichtet Julia Smirnova, "muss die russische Regierung ein `einheitliches´ Konzept der Geschichte erarbeiten lassen."

Verantwortlich ist der Premierminister. Der Historiker Nikita Sokolow warnt:

"Nachdem sie das offizielle Geschichtsbuch gelesen haben, werden Kinder im Internet eine ganz andere Darstellung der Ereignisse lesen. ... Viele werden danach ein Gefühl bekommen, von allen Seiten betrogen zu werden, und wachsen als Zyniker auf."

Da muss man Claudia Tieschky wohl recht geben, die in der SÜDDEUTSCHEN fordert:

"Netzneutralität könnte, nein sie muss zum Thema in diesem Wahlkampf werden."

Wenn das Netz so wichtig wird, wie es womöglich schon ist, dann ist tatsächlich allerhöchste Zeit für mehr Debatte.