Von gutwilligen Kreisen und nützlichen Idioten

Von Cora Stephan · 24.06.2009
Am 2. Juni 1967 war ich seit zwei Monaten 16 Jahre alt, und für mich wie für viele andere ohne vorgefasste politische Meinung hätte die Kenntnis der wahren Identität des Todesschützen Kurras ganz gewiss die Weichen anders gestellt.
Dass Demonstranten erschossen wurden, kannte ich aus den Nachrichten, meistens passierte sowas unter fernen diktatorischen Regimes. Aber dass das auch hierzulande üblich sein sollte, schockierte mich zutiefst. Auch wir, lernte ich daraus, lebten also in einem faschistoiden Polizeistaat. Das ließ mich sogar eine stümperhaft selbstorganisierte Demonstration gegen Fahrpreiserhöhungen für legitimen Widerstand gegen ein Gewaltregime halten.

Während die gutmütige Osnabrücker Polizei noch Verständnis zeigte und meine Eltern daran scheiterten, mir den Unterschied zwischen der Bundesrepublik und einem Terrorregime zu erklären, waren andere des Lobes voll über die "aufmüpfige Jugend". Ganze Kohorten von Friedensfreunden und Humanisten, "progressiven" evangelischen Pfarrern und missionsbereiten Jusos beugten sich über uns bildbare Schüler und bemühten sich um unsere "Politisierung". Die Freiabos der "Deutschen Volkszeitung" sowie der "Blätter für deutsche und internationale Politik", um die man nicht hatte bitten müssen, kündigten meine Eltern, die wussten, woher das Geld dafür kam.

So naiv wie ich waren auch andere. Immerhin: was die Argumente der Eltern nicht bewirkten, erledigte der August 1968 und die Zerstörung meines Jugendtraums vom "Prager Frühling". Doch das Misstrauen gegenüber dem, was auch wir antiautoritären Schüler nun spöttisch "BRD" nannten, hatte sich damit nicht erledigt.

Das lag leider nicht nur an der überaus geschickten Regie der SED bei der Überführung der Leiche Benno Ohnesorgs: Man ließ auf der Transitstrecke von Berlin nach Hannover Grenzpolizei und FDJ-Gruppen Spalier stehen und verbreitete die Parole, sein Tod sei "ein Beweis für den potentiell faschistischen Charakter des westdeutschen Staates" - und das, obwohl man ja wusste, dass einer der eigenen Leute den Studenten erschossen hatte.

Eine frühe Aufdeckung dieser Lüge hätte womöglich ihren Siegeszug gebremst. Womöglich, denn Polizei und Regierende im Westen halfen ja auf ihre Weise mit an der Popularität der SED-Parole: Ihr skandalöses Vorgehen nährte den Verdacht, dass im bundesrepublikanischen "Schweinesystem" das Dritte Reich weiterlebe. Oder wäre Kurras dreimal freigesprochen worden, hätte man gewusst, dass er für "drüben" arbeitete? Die "Mächtigen" der Bundesrepublik liefen selbsttätig und selbstverschuldet in die Falle.

Sie riskierten damit jene, die man im SED-Jargon "gutwillige Kreise" nannte, eine vornehme Umschreibung für nützliche Idioten. Denn die SED und ihre Desinformationsagenten zielten keineswegs primär auf die unzuverlässigen Gesellen der APO. Ihre Unterwanderungsabsichten im Westen beschränkten sich ebenso wenig auf Abgeordnetenbestechung und Spitzelanwerbung. Der ideologische Kampf war entscheidend, man suchte Einfluss auf Geschichtsdeutung und Politikverständnis zu nehmen – und damit war die SED überaus und sehr anhaltend erfolgreich.

Dass "sie", die Bullen, zuerst geschossen hätten, dass der Faschismus seine Fratze gezeigt, das System sich enthüllt habe – das beeinflusste nach dem 2. Juni auch das Meinungsbild jener eher bürgerlichen "gutwilligen Kreise" der Bundesrepublik, die dem radical Chic von Baader/Meinhof erlagen. Musste man nicht "irgendwie" verstehen, dass Gudrun und Andreas und Ulrike sozusagen in Selbsthilfe gegen das Schweinesystem zur Knarre griffen?

Bei all den Irrwegen in gemeingefährliche Sekten und Ideologien, die der Zerfallsprozess der Studentenbewegung mit sich brachte: Sie mündeten immerhin nicht selten in Selbstaufklärung. Das galt für andere nicht - wer in einem weniger schrecklichen Ausmaß irrte, muss auch weniger "aufarbeiten". Vielleicht halten sich deshalb etliche Legenden und Propagandalügen so zäh, prägt das Juste Milieu der "gutwilligen Kreise" das Meinungsklima in Deutschland bis heute. Es sind jene Leute, die sich progressiv vorkamen, als sie 1989 keinen großen Unterschied zwischen Honecker und Kohl erkennen konnten und die sich heute menschenfreundlich glauben, wenn sie "Und es war doch nicht alles schlecht in der DDR!" intonieren.

Dr. Cora Stephan, Publizistin: Die Frankfurter Publizistin und Buchautorin Cora Stephan, Jahrgang 1951, ist promovierte Politikwissenschaftlerin. Von 1976 bis 1984 war sie Lehrbeauftragte an der Johann Wolfgang von Goethe Universität und Kulturredakteurin beim Hessischen Rundfunk. Von 1985 bis 1987 arbeitete sie im Bonner Büro des "Spiegel". Zuletzt veröffentlichte sie "Der Betroffenheitskult. Eine politische Sittengeschichte", "Die neue Etikette" und "Das Handwerk des Krieges".