Von Gregor Sander

17.08.2011
Der Fotograf, Turner-Preisträger und London-Bewohner Wolfgang Tillmanns verteidigt in der "Zeit" die britische Metropole als "integrierteste Region ganz Europas". Für die jugendlichen Randalierer hegt er Mitleid. Die Veröffentlichung der Longlist für den Deutschen Buchpreis lässt die Feuilletonisten eher kalt.
"Trotz der extremen Situation und der erlebten Gewalt darf man nie vergessen, dass London in Wirklichkeit die 'integrierteste' Region ganz Europas, wenn nicht der Welt ist."

Das schreibt Wolfgang Tillmanns in der Wochenzeitung DIE ZEIT. Der deutsche Fotograf und Turner-Preis Träger lebt seit 20 Jahren in der britischen Hauptstadt, und er beschreibt sein London als Vorbild.
"Selbstverständlich halten die Verkehrsbetriebe 'London Transport' spezielle Uniformmützen für ihre karibischen Mitarbeiter bereit, Mützen, unter die beispielsweise Rastalocken passen; London Transport hat aber auch eine Variante für Sikh-Mitarbeiter."

Seit über zwanzig Jahren gebe es im Fernsehen Nachrichtensprecher verschiedener Hautfarben und es habe nie eine Kopftuchdebatte gegeben, so Tillmanns, der dann rhetorisch fragt:

"Ich verstehe nicht, warum die sinnlosen Gewalttaten nicht als Weckruf gesehen werden, sondern als rein kriminelle Akte. Warum betrachten wir die Plünderer nicht auch mit Mitleid? Natürlich handeln sie kriminell, und ihre Taten sind unentschuldbar, aber wer wird schon auf diese Weise kriminell, wenn er Bildung, einen Job und Teilhabe an der Gesellschaft hat?"
Als integriert darf man Omid Nouripour wohl bezeichnen. Der im Iran geborene Deutsche ist seit 2009 Sicherheitspolitischer Sprecher der Grünen-Bundestagsfraktion. Nun aber glaubt sich Nouripour auch als Figur im Roman "Radikal" des SPIEGEL-Autors Yassin Musharbash erkannt zu haben. Doch statt wie viele andere vor Gericht zu ziehen bespricht Nouripour den Roman begeistert in der FRANKFURTER RUNDSCHAU und beginnt mit folgenden Worten:

"Ich bin also tot. Ermordet. Live im Morgenmagazin. Mit mir starben die Moderatorin und zwölf Zuschauer, darunter auch Kinder. Die Bombe wurde einem ahnungslosen Rentner untergejubelt, der mit im Publikum saß."

Natürlich ist glücklicherweise nur die Romanfigur Lutfi Latif ermordet worden, in der sich der Grünenpolitiker wiedererkennt.

"Latif ist der etwas andere Politstar. Er ist bekennender Demokrat - und Muslim noch dazu. Dass er dadurch automatisch ins Visier von Islamisten ebenso gerät wie in den Fokus von Nazis und Islam-Hassern, ist nahezu logisch."

Wie nah der Roman "Radikale" seinem tatsächlichen Leben kommt wird nicht nur klar, wenn Nouripour die täglichen Hassmails der Romanfigur als seine eigenen erkennt. Mit den letzten Worten in der FR wird Nouripour sehr deutlich:

"Latif sagt zurecht, dass man sich von Radikalen nicht mundtot machen lassen darf, denn sonst hätten diese gewonnen. Er hat ohne Zweifel recht. Und doch lese ich immer wieder die erschütternde Passage, in der Latifs Frau und seine zwei Kinder von seinem Tod erfahren. Ist das der Grund, aus dem manche andere muslimische Abgeordnete nicht gern über ihre Konfession reden?"

Auf die Longlist des Deutschen Buchpreises hat es der Roman "Radikal" nicht geschafft. Seit Jahren haben wir uns nun daran gewöhnt, im August etwas müde auf die 20 Auserwählten zu schauen, aus deren Mitte dann im Oktober der eine glückliche Bestseller gewählt wird. Und so vermelden die meisten Feuilletons die Liste auch nur:

"Erste Runde. Die Longlist für den Deutschen Buchpreis 2011 steht fest",

schreibt die SÜDDEUTSCHE ZEITUNG nüchtern und die FRANKFURTER RUNDSCHAU titelt kryptisch:

"Wenn wir nicht so viele wären."

In der Tageszeitung DIE WELT hingegen hat Tilmann Krause auf der Liste einen:

"Herbst der Frauen"

erkannt. Besonders Sibylle Lewitscharoff, Judith Schalansky und Antje Ravic Strubel kommen ihm preiswürdig vor. Die Herren der Schöpfung - für Krause eine Fehlanzeige:

"Um Apostel handelt es sich da nicht. Damit sind nicht nur Hintersassen wie Michael Buselmeier oder Klaus Modick gemeint. Auch Wilhelm Genazino, dem wir seit Jahren beim Versiegen zuschauen können, sollte nicht auf diese Liste."

Wir hingegen staunen über soviel besserwisserische Unfreundlichkeit und schließen uns lieber der TAZ an:

"Einen Glückwunsch an alle, die auf der Liste stehen. Und ein tröstliches Schulterklopfen für alle, die nicht draufstehen!"