Von Göttern, Menschen und Ratten

Von Herbert A. Gornik |
Manchmal deuten moderne Regisseure ohne Taufschein religiöse Themen zeitgemäßer als klassische Theologen. Wie Hans Neuenfels, der in Bayreuth Lohengrin als theologischen Skandal in einem Ratten-Opern-Comic inszenierte.
Die säkulare Gesellschaft entdeckt das Religiöse neu und hat keine Berührungsängste. Als der verstorbene Christoph Schlingensief 2009 in Wien "Mea Culpa. Eine ReadyMadeOper" inszenierte, machte er das Burgtheater zu einer Kirche. Und erinnerte an die bewegende Auseinandersetzung mit seiner Krebserkrankung ein Jahr zuvor in Duisburg – "Eine Kirche der Angst vor dem Fremden in mir".

"Die Wanderung – die Suche nach dem Weg" war das Thema der Ruhrtriennale und beschäftigte sich mit dem Islam. In Salzburg lautete das Motto der Festspiele 2010: "Wo Gott und Menschen zusammenstoßen, entsteht Tragödie". Das entsetzt so manchen Theologen, dabei ist der Leitsatz nicht christlich-theologisch, sondern klassisch-mythologisch gemeint. "Unschuldig schuldig werden" meint das dem Begriff zugrunde liegende Wort.

Hans Neuenfels zeigt unser Leben als liebesunfähige Retortengesellschaft geklonter Ratten. Verführbar sind wir Menschen durch falsche Götter und falsche Versprechungen. Verblüffende Parallelen zwischen Lohengrin und Jesus von Nazareth als abgewiesene Heilsbringer bringt Neuenfels. Dabei wollte er sicher nicht die Hausaufgaben der christlichen Theologen machen, hat aber für den Preis einer Eintrittskarte skandalträchtige Nachhilfestunden im religiösen Fragen und Antworten gegeben.

Der christliche Glaube muss keine Angst vor Skandalen haben: Für Menschen, denen Religion und Kirche vertraut seien, meinte zu seiner Zeit der Apostel Paulus, sei die gute Nachricht von der Liebe Gottes ein Skandal bzw. ein Ärgernis, für die anderen sei sie schlicht eine Dummheit bzw. Torheit.

Man kann sich bei dieser Jahrhundertinszenierung des Lohengrin durchschütteln lassen und seinen eigenen Beziehungs-Check-In versuchen – wie hältst du es mit dem Göttlichen in dir, mit deinem Selbstbewusstsein, deinem Zweifel und deinem Glauben?

Jeder kennt sie, jede summt sie, die Leitzeile aus Lohengrin: "Nie sollst Du mich befragen." Und jeder weiß: Was der Schwanenritter erbittet oder verlangt, mag oder kann Elsa nicht halten. Sie fragt. Und alles ist hin. Lohengrin antwortet zwar, erklärt alles, aber reist ab. Adieu nationales, politisches, wirtschaftliches und adieu privates Glück. Ach Du lieber Lohengrin, alles ist hin. Die Rattenmenschen laufen wieder anderen (Ratten-)Rettern nach.

Nun kommen Ratten zwar in der Bibel nicht vor (höchstens in Jesaja 2,20, aber da streiten die Gelehrten, ob es auch Spitzmaus oder Maulwurf heißen kann), Ratten sind aber als Symbol existenziell und geradezu religiös aufgeladen. Wenn Engel Begleiter des Menschen im guten spirituellen Sinne sind, sind Ratten unsere Schatten im realen bösen Sinne – sie sind unsere treuesten und zugleich ungeliebtesten Begleiter.

Von Gerhart Hauptmann bis Günter Grass, von Albert Camus bis Wolfgang Borchert – nichts ist so klug und zugleich so abscheulich wie die Ratte: "Wo Menschen wohnen, lass Dich nieder", scheinen sie zu denken, "die Menschen sind unser Alter Ego", "werde wie sie" und: "die Menschen, unsere Brüder und Schwestern, sind ja schon wie wir" könnte ihr literarisches Credo sein.

Unsere Verwandlung in Ratten hat längst begonnen, sagt der gerne und gut provozierende Regisseur Hans Neuenfels. Da mögen die Rattenmenschen ihre Rattenkleidung bisweilen ablegen und sich umkleiden wie in der Waschkaue der Bergleute, indem sie die Garderobe an Haken hängen und in den Bühnenhimmel ziehen. Aber Rattenmenschen bleiben Rattenmenschen.

Überspitzt ausgedrückt in alter theologischer Sprache: Unerlöste Menschen sind wie Ratten. Die, so sagt der Volksmund, müssen ersäuft werden. Wem das zu drastisch klingt, sei an Luther erinnert, wenn er vom alten Adam in uns spricht, der "ersäuft werden muss". Das ist und klingt auch nicht feiner. Als Art Spiegelman die NS-Verbrechen als Mäuse-Comic erzählte, war dies ein Kunstgriff, mit der comichaften Distanzierung, die auch Lachen und Heiterkeit zulässt, Nähe und Betroffenheit zu erzeugen. Hans Neuenfels verfährt mit seinem Opern-Ratten-Comic ähnlich.

Schon als Elsa auftritt, ist sie gespickt von Pfeilen wie der heilige Sebastian. Vertrauensentzug und Beschuldigungen, sie habe ihren Bruder ermordet, sind eine seelische und körperliche Folter. Die Rattengesellschaft zerfleischt ihre Kinder. Davor retten kann sie nur Lohengrins Liebe.

Am Ende des ersten Aktes hängt am Bühnenhimmel ein gerupfter Schwan; der hat mehr von magerer Weihnachtsgans als von beflügelnder Friedenstaube. Wer blind dem Führerprinzip folgt, wer sogenannten Rettern blind nachläuft, wer auf Erden Heilsversprechen aller Art folgt, der entkleidet die Retter selbst, der fesselt die Erlöser, der beraubt die frei machenden Flügel ihrer Kraft. Zu oft haben die Paradieserschaffer Höllen hervorgebracht, die das Heil predigten, haben das Unheil praktiziert.

Der Schwan, in dem Lohengrin einzieht, ist ein halber Sarg. In der Ankunft scheint schon das Ende auf; am Anfang stand der Stall, am Ende der Galgen, das Kreuz steht in alten biblischen Geburtsdarstellungen schon neben der Krippe. Noch einmal taucht der Kahn-Sarg wie ein memento-mori auf, in der Schlafzimmerszene wölbt er sich zwischen den Ehebetten auf, und Elsa ahnt: Das Ehebett wird zum Beziehungssarg, hier in der Stunde größter Nähe wird sich der tiefste Graben auftun. Ein biblischer Kuss hat in der Passionsgeschichte den Tod nach sich gezogen; die zärtlichste Frage gestellt nach dem "Wer bist Du?", um zu wissen "Wer bin ich?", wird eine furchtbare Antwort nach sich ziehen.

Wenn Ortrud Elsa das süße Gift der Unzufriedenheit mit dem Frageverzicht einträufelt,
liegt der Vergleich mit der biblischen Eva nahe; aber während Eva die verführte Verführerin ist, wirken Ortruds gellende vokalisierende Schreie wie Schlangenbisse und wie die Inkarnation des Bösen. Das Böse in der Oper singt nicht immer Bass. Ortrud ist die vorweggenommene Kundry aus dem Parsifal.

Lohengrin, meint Wagner 1851, verlangt es "nach dem einzigen, was ihn aus seiner Einsamkeit erlösen, seine Sehnsucht stillen konnte – nach Liebe, nach Geliebtsein, nach Verstandensein durch die Liebe". Aber Wagner muss sich schon nach der Uraufführung vorhalten lassen, er habe in Elsa eine zum Schweigen gebrachte Frau geschaffen, die einer Prostituierten gleich handeln solle, dem anonymen Freier ganz ergeben.

Da hilft auch nicht, dass Lohengrin nur singend fordert, was er selber bereit ist zu geben: "Nicht Deine Art ich brauchte zu erkunden, Dich sah mein Aug – mein Herz begriff Dich da." Das mögen Götter können, für Menschen scheint das nicht zu taugen. Wer wollte schon mit einem Mann zusammen Tisch und Bett teilen, den man nicht fragen darf, was ihn im Innersten bewegt. Verschlossene Seelen können nur Götter, bisweilen Psychoanalytiker, nie aber Eheleute dechiffrieren.

Ist unbedingte, sprachlose, fraglose Liebe überhaupt möglich? Ist sie wünschenswert? Sehnen freilich tun wir uns alle wie Lohengrin nach einer nur antwortenden, aber nicht nachfragenden Liebe. Darf also ein Gott uneinhaltbare Gebote erlassen?

Der christliche Glaube hat darauf eine Antwort: Wenn göttliche Gebote wie Gesetze sind, kann kein Mensch sie halten. Wenn sie aber Freiheiten sind, dann haben wir eine Chance. "Du darfst nicht fragen", heißt dann: "Du musst nicht mehr fragen". Lohengrin verkörpert das Drama der göttlichen Freiheit in uns und das Drama des menschlichen Begehrens in Gott selbst. Wir können uns Lohengrin als ganz diesseitig, ganz menschlich, ganz bedürftig und begehrend vorstellen, wenn er singt: "Elsa, ich liebe Dich".

Auch Jesus dürfen wir uns als einen Liebenden vorstellen, auch er war ganz diesseitig, ganz im Hier und Jetzt, aber mit der Ahnung einer anderen Welt, mit der Botschaft vom auch möglichen, menschenwürdigeren Leben. Jesus lebte mit dem Risiko, dass die Menschen mit ihm tun, was sie eben mit Menschen tun. Menschen können keine Götter lieben; leider können sie nachdrücklich und eindeutig auch keine Menschen lieben, weder andere Menschen noch sich selbst.

Als Hochzeit gefeiert wird, klagt Telramund, der sein Herz an die Mächte des Bösen gegeben hat, Lohengrin der Zauberei, also der Abgötterei an. Am Kopf der Treppe ist das christliche Kreuz aufgerichtet, Ortrud liegt wie die Schlange verführerisch auf der Treppe, Elsa bewegt sich wie ein Schwan, schwebend, fast fliegend, da greifen die Rattenwärter ein und wollen die Szene abräumen, sie zerreißen das Kreuz in zwei Teile. Aber Lohengrin entwindet ihnen die beiden Balken, formt sie wieder zum Kreuz, hält es vor sich hin, er wird zum Kreuz, wie einer, der das Kreuz auf sich nimmt und sein eigenes Kreuz trägt.

Am Ende verlässt ein trauernder Lohengrin die Szene. Er legt sich selber in den Sarg, der ihn in eine Heimat bringt, in die er nicht will. "Lass diesen Kelch an mir vorübergehen" - aber wie in der Passionsgeschichte steht Ergebung in den göttlichen Willen am Ende. Erst jetzt erschließt sich der geniale Anfang der Operninszenierung: Da steht Lohengrin vor einer verschlossenen Tür, die er nicht zu öffnen vermag. Nur den Raum vermag er zu weiten für das nun kommende Spiel, indem er die ganze Wand verschiebt. Die Szene war ein Rückblick.

Sie kann nun vom Ende her auch so gedeutet werden: Der abgewiesene Retter will zurück zu den Menschen, er will wieder zurück. Das ist die Hoffnung der Christen: ER kommt wieder. Trotz alledem.