Von Gerkan: Freiheit der Architektur in China und Vietnam "um ein Vielfaches größer"

Meinhard von Gerkan im Gespräch mit Jan-Christoph Kitzler · 14.10.2011
Der deutsche Stararchitekt Meinhard von Gerkan hat vor Beginn des Deutschen Architektentags die zahlreichen Einschränkungen für Architektur in Europa beklagt. Den Architekten stehe nur ein sehr schmaler Sektor zur Verfügung, in dessen Rahmen sie entscheiden könnten, sagte Gerkan.
Jan-Christoph Kitzler: Architektur ist politisch, das zeigt sich auch am Motto, das sich der Deutsche Architektentag in diesem Jahr gegeben hat: "Verantwortung gestalten". Nach zehn Jahren Pause gibt es wieder ein Treffen der Architekten, Innenarchitekten, Landschaftsarchitekten und Stadtplaner heute, im Deutschen Hygienemuseum in Dresden, und dabei geht es unter anderem um die Funktion der Architektur in sich wandelnden Gesellschaften und um die Frage, welche Rolle die Architekten dabei spielen.

Darüber spreche ich jetzt mit einem der bekanntesten deutschen Architekten, mit Meinhard von Gerkan, er hat zum Beispiel am Anfang seines langen Schaffens den Berliner Flughafen Tegel gebaut und vor wenigen Jahren den Hauptbahnhof in der Hauptstadt, er hat aber auch schon Großprojekte in China geplant und umgesetzt. Schönen guten Morgen, Herr von Gerkan!

Meinhard von Gerkan: Schönen guten Morgen, Herr Kitzler!

Kitzler: "Verantwortung gestalten", das ist das Motto des Deutschen Architektentages in Dresden .Wann ist denn Architektur in Ihren Augen verantwortungslos?

von Gerkan: Also ich muss Ihnen dazu sagen, dass ich vor 30 Jahren, zu Beginn meiner Berufslaufbahn, ein Buch geschrieben habe, das heißt zufällig "Die Verantwortung des Architekten". Das Buch hat zwar in einigen Punkten keine Aktualität mehr, aber dafür an einigen Stellen neue gewonnen und eher negative Einflüsse bedeutet.

Es geht darum, wenn man das postuliert, was ich gut und richtig finde: im Bewusstsein zu haben, dass den Architekten, was die Verantwortung anbetrifft, nur ein sehr schmaler Sektor überhaupt zur Verfügung steht, in dem sie entscheiden können.

Wir sind, gerade was das Bauen anbetrifft, an so vielen Enden – vor allem voran politisch, aber mindestens genauso gewichtig ökonomisch – eingeengt. Hinzu kommen die jüngsten Erscheinungen, Klimawandel, Wärmeschutz und dergleichen Maßnahmen, die alle samt und sonders in Händen von Politikern oder Beamten oder irgendwelchen Verbänden entschieden werden und gewissermaßen das Bedingungsfeld für die Verantwortung des Architekten immer mehr einschnüren und enger machen, sodass nur noch ein sehr, sehr schmaler Spielraum bleibt. Diese Offenheit der Freiheit, sich verantwortungsvoll zu verhalten, muss gleichermaßen an die andere Adresse derer gerichtet werden, sei es in Brüssel, sei es in irgendwelchen Ausschüssen, in denen ... in Gremien, in Verwaltungen bis hin zur Kommunalpolitik.

Kitzler: Die Verantwortung zeigt sich ja auch immer natürlich an den Herausforderungen der Zeit, zum Beispiel müssen Architekten heute ganz selbstverständlich energiesparende Häuser bauen. Welche Rolle hat denn da der Architekt, an dem so viele zerren, wie Sie sagen? Ist der einfach vor allem nur ein Auftragnehmer, oder sollte er vielleicht mehr Avantgarde sein, einer, der vorweg geht?

von Gerkan: Letzteres wäre schön, und ich muss sagen, dass einem Büro ist, je bekannter es ist, umso größer wird ihnen natürlich auch Freiraum gelassen, sich avantgardistisch und losgelöst von den allzu engen Bedingungen zu bewegen. Das ist aber leider der Mehrzahl versagt. Ich für meine Person und unser Büro, das ja eines der größten überhaupt in Europa ist, kann nur sagen, dass die Entfaltung der Freiheit in der Architektur in Asien, speziell in China und in Vietnam um ein Vielfaches größer ist als dies in dem überreglementierten Szenario in Europa und vor allem in Deutschland der Fall ist.

Kitzler: Ist verantwortliche Architektur eigentlich auch solche, die nicht zum Selbstzweck wird, die sich nicht zu sehr in den Vordergrund drängt? Ich denke da zum Beispiel an manchen Museumsbau, der selber vielleicht Kunstwerk sein will oder sein möchte und dann das, was ausgestellt werden soll, quasi an die Wand spielt. Wie sehen Sie das?

von Gerkan: Das kann ich nicht leugnen, dass das so ist. Es ist einigen Wenigen vorbehalten, die Stadtväter, die sich gerne mit dem Bau selbst schmücken, das als eine Ikone der Stadt betrachten und für die dann das, was im Museum zu sehen ist, nachrangig wird, aber trotzdem natürlich Besucher anzieht. Es ist der sogenannte Bilbao-Effekt, der sich eingestellt hat, der dann auch dazu geführt hat, dass rund um die Weltkugel ganz bestimmte Architekten immer wieder geradezu herausgefordert werden, etwas zu machen, was wider die Regeln der Ökonomie, wider die Regeln des Sich-Rechnen-Müssens und all dem behaupten kann.

Aber ich glaube, dass das nicht das Feld ist, auf dem sich die Verantwortung, also die Verantwortung des Bauens und der Architektur für die Gesellschaft insgesamt etabliert. So wie es eben auch Skulpturen und andere Stadtelemente gibt, die dem öffentlichen Raum Bedeutung geben, gibt es natürlich einige wenige Bauten, die auch ein Stück von dieser Freiheit abbekommen, weil sie als Tore, als Empfangsgesten einer Stadt verstanden werden und ihnen mehr eingeräumt wird an semantischem Anteil als einem Bau, bei dem die Investition so schnell wie möglich und so kurz wie möglich wieder zurückfließen soll, also return of money.

Und insbesondere, wenn man sich in Paris, wo ich zurzeit bin, bewegt und sieht, dass ja der Zwang, mit Architektur Geld zu verdienen, auch vor 200 Jahren schon existiert hat, aber immerhin so viel Freiheit und so viel Verständnis dafür da war, dass die Architektur auch der Stadt etwas schuldet, dann gewinnt eine Stadt eine so hohe Identität und eine Beliebtheit, die nur diesem Umstand zu danken ist.

Kitzler: Architektur ist ja schon immer auch eine sehr, sehr politische Kunst. Jedes System hat quer durch die Jahrhunderte versucht, seinen Glanz irgendwie auch architektonisch auszudrücken. Sie haben ja zum Beispiel auch in China gebaut und haben erzählt, Sie haben da große Freiheiten, auch Dinge zu verwirklichen, aber es gibt ja immer wieder auch Kritik zum Beispiel an der Menschenrechtssituation und Proteste. Wo ist denn bei Ihnen eigentlich die Grenze, für wen würden Sie nicht bauen?

von Gerkan: Ja, wir bauen ja immer für Menschen, die in dem Land, in der Stadt leben. Das schließt nicht aus, dass auch Besucher daran teilhaben, aber es sind ja keine Bauten, die jetzt, wie das im Mittelalter der Fall war, ausschließlich personenbezogen Selbstdarstellungsobjekte sind, die dem jeweiligen Herrscher Glorie verleihen. Diese Epoche ist in Europa mindestens vorbei, in Afrika grassiert sie ja noch gewaltig, und jeder kleine Potentat und jeder kleine vorübergehende Herrscher – manche bleiben ja bis zu 30 Jahren – setzen sich in die ernste Umgebung große Schlossbauten, mit denen sie (…) aber allesamt verschwinden irgendwann durch den Aufstand der Massen und durch Revolution, und deswegen ist Afrika insbesondere in einem Umbruch. Da gibt es die größte Diskrepanz zwischen banalster und ärmlichster Architektur für die Bevölkerung und protziger Architektur für die Herrscher.

Kitzler: Meinhard von Gerkan war das über die Verantwortung in der Architektur. Heute trifft sich in Dresden der Deutsche Architektentag. Vielen Dank für das Gespräch und einen schönen Tag!

von Gerkan: Dankeschön!


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