Von Gefühlen und Trieben

Von Brigitte Neumann |
Das Metier der schottischen Autorin A. L. Kennedy ist die Inszenierung geheimer Gefühle und verbotener Triebe. Von einem pornografiesüchtigen Professor und einer geprügelten Hausfrau handelt ihr erfolgreichster Roman "Gleissendes Glück", den der Wagenbach Verlag als Hörbuch herausgebracht hat.
Mrs Brindle lag in ihrem Wohnzimmer auf dem Boden und blickte an die Decke. Sie fühlte sich von allen guten Geistern verlassen und war so verzweifelt auf der Suche nach Hilfe, dass ihr die Radiostimme eines Psychogurus wie die Verheißung einer Erlösung vorkommt. Mrs Brindle ist – das muss man wissen, sonst versteht man die Geschichte nicht – sie ist sehr religiös.

" Irgendwo in ihren zehntausend Millionen denkenden Zellen war die Erinnerung an die Zeit, als Einsamkeit ein leicht zu behebendes Missverständnis war, weil jemand anderer immer da war, nur knapp außer Reichweite. Er hatte sich mal mehr mal weniger offenbart, aber er war doch immer absolut ewig da gewesen. Gott. Ihr Gott. Unendlich zugänglich. Ein Trost ihres Fleisches. Ihre schönste Liebe."

"Jahrzehntelang hatte sie niedergekniet und gespürt, wie sich ihr Herz an das heiße Herz der Welt lehnte.", heißt es bei Kennedy, aber diese Zeit war vorbei. Die Ehe mit dem pöbelnden und prügelnden Mr. Brindle hatte Helens Vertrauen in Gott aufgebraucht. Aber noch nicht den allerletzten Rest. Mit dem macht sich Helen auf, jenen Lebenshilfeprofessor aufzusuchen, dessen Stimme ihr Hoffnung gab...
" "Was ist los? Was fehlt Ihnen? Mrs. Brindle ... Das ist es. Fühlen Sie das?" Sein Gesicht sagte: Ja. Ich habe Angst. Das ist mit mir los. Das ist ständig mit mir los. Ich habe Angst."

Professor Edward Gluck allerdings ist selbst krank. Er ist süchtig nach Pornographie ...

" Ich schaue mir diese Sachen an und sie haben ein Leben – mehr als ich selbst. (...) Ich kann es nicht ertragen, was da in mir passiert. Ich sage mir, ich werde da niemals rauskommen. Das weiß ich. Manchmal kann ich mich ein wenig im Zaum halten. Aber das ist auch schon alles."

Gluck, Aspirant auf den Nobelpreis, gefragter Redner und Bestsellerautor, bittet die geprügelte Hausfrau Helen Brindle, ihm aus diesem ganzen "Schmutz" – wie er es nennt – herauszuhelfen. Verliebt sagt sie zu. A.L. Kennedy über ihre Heldin aus "Gleissendes Glück":

" Viele Leute helfen anderen Menschen, weil sie sich selbst nicht helfen können. Außerdem: Frauen wie Helen Brindle, mit katholischer Erziehung, glauben wirklich, dass sie für ihre vermeintliche Unanständigkeit – und seien es nur unanständige Gedanken – bestraft werden müssten. Dafür, denken Sie, sind die Partner da. Viele Menschen glauben, dass es verwerflich ist, sein Leben zu genießen. Sie finden es richtig, unglücklich zu sein. Nicht alle Partnerschaften sind darauf ausgelegt, sich gegenseitig glücklich zu machen; es gibt sehr spezielle Wege, wie Leute ihr Leben einrichten, wie sie sich sicher aufgehoben fühlen."

Mrs. Brindle, der die 40-jährige Schottin A.L. Kennedy ein ultrafeines Gespür noch für die kleinsten seelischen Regungen mitgegeben hat, empfindet, dass auch ihr neuer Freund Edward Gluck sie benutzt. Sie geht zurück zu Mr. Brindle.
Aber das ist nicht das letzte Wort: A.L. Kennedy mag keine Geschichten, die schlecht ausgehen. Das sei hier verraten, denn erst, wenn man das weiß, kann man den Figuren einigermaßen beruhigt bis in ihre Untiefen folgen.

Das tatsächlich Einzigartige an A.L. Kennedy ist: Sie schreibt Geschichten, die aus der Welt des Erfundenen mitten in das Leben des Lesers hineinzugreifen scheinen. Geschichten, die ihm aus der Seele sprechen. In denen verblüffenderweise steht, was mit ihm los ist. Mit seiner Angst, seiner Sehnsucht, seiner Enttäuschung. Nur viel, viel besser, als wir Leser es sagen könnten.

" Waren Sie jemals glücklich? Sagen Sie ehrlich: Waren Sie jemals wirklich glücklich? Können Sie sich erinnern? So richtig – im Hier und Jetzt, durch Mark und Bein und Fleisch und Blut glücklich? Kein Ende in Sicht, mmh? (...) So glücklich, dass Sie nichts anderes tun können als Lächeln, Lächeln und noch einmal lächeln? "

Die Stimme, die uns den kompletten Roman "Gleissendes Glück" vorliest, scheint seltsam undefinierbar: Nicht männlich, nicht weiblich; nicht jung, nicht alt. Sie kann sowohl den sonor knurrenden Edward Gluck geben, als auch – mit einem Schimmer Mädchenhaftigkeit im Ton – die naiv-geniale Hausfrau Helen Brindle. Diese Stimme gehört der 57-jährigen Mechthild Großmann, die im Tatort aus Münster mitwirkt und in Pina Bauschs Tanztheater-Equipe die einzige Schauspielerin ist. Hätte man nicht manchmal, wenn die Stimme einen Touch ins Disneyhafte bekommt, den Verdacht, die Tontechniker des RBB hätten Großmanns Stimme mit digitalen Effekten aufgebrezelt, dann wäre der Hörgenuss perfekt.

A.L. Kennedy
"Gleissendes Glück"
Gelesen von Mechthild Großmann
3 CDs insgesamt 195 Minuten
Preis: 24 Euro
Eine Produktion des RBB
Erschienen als "Leseohr" bei Wagenbach, Berlin