Von "Ego-Maschinen" und Neuro-Ethik

Es gibt keine Seele und kein Ich, es gibt nicht einmal ein Selbst. Es gibt aber großflächige Neuronenaktivitäten im Hirn, die uns den soliden Eindruck verschaffen: Hier bin ich, dort ist die Welt; Ereignis XY passiert <em>mir</em>; exakt ich bin es, der träumt, denkt, fühlt. Wir stecken also, ohne es zu merken, im "Ego-Tunnel", in dem eine Light-Version der Wirklichkeit repräsentiert wird.
Das ist, radikal verknappt, das Eingangsszenario von "Der Ego-Tunnel", ein Werk, in dem der Philosoph Thomas Metzinger die Philosophie des Geistes mit der Hirnforschung abgleicht. Metzinger hält Bewusstsein für "eine Art Organ". Er erklärt, wie Neurowissenschaftler im Hirn vieles fixieren können, nur kein Korrelat des metaphysischen Ich, und fordert eine "Bewusstseinsrevolution", die sich auch mit "künstlichen Ego-Maschinen" und Neuro-Ethik zu befassen hat. Metzinger schreibt klug, hochinformiert und doch spekulativ. Wenn man "Der Ego-Tunnel" nicht als Handbuch definitiven Wissens nimmt, sondern als Zwischenbericht zur Bewusstseinsforschung, ist es ein aufregendes Werk und anspruchsvollste Populärwissenschaft.

Thomas Metzinger, der sich als Aufklärer versteht, kämpft für die "naturalistische Wende" im gegenwärtigen Menschen- und Weltbild: "Was uns fehlt, ist nicht Glauben, sondern Wissen. Was uns fehlt, ist nicht Metaphysik, sondern eine neue Form von kritischer Rationalität." Und dafür macht Metzinger, soweit es ums Bewusstsein geht, die Neurowissenschaftler zuständig, deren Arbeit er mit philosophischer Reflexionskraft durchleuchtet.

Rhetorisch nüchtern und fieberhaft zugleich dringt Metzinger in die heißen Zonen der Bewusstseinsforschung ein. Ihn interessieren Wachträume, Meditationsformen und außerkörperliche Erfahrungen. Er will wissen, warum sich in der Evolution Selbstbewusstsein überhaupt durchsetzen konnte, warum wir als "naive Realisten" geboren werden, warum Willensfreiheit und Determinismus "vereinbar" sind. Und ihn interessiert auch, was vom Menschen bleibt, wenn man Seele, Bewusstsein und Ego als höhere Instanzen abschreibt.

Selbst wenn man den von Metzinger intendierten Untergang des Ich im Feuern der Neuronen nicht restlos mitmacht, steht außer Frage, dass die Neurobiologie das Menschenbild ummodelt. Metzinger diskutiert bereits künftige Konsequenzen. Er sieht "post-biologische Ego-Maschinen" am evolutionären Horizont auftreten, hält Neuroanthropologie für die kommende Wissenschaft, bedenkt tierisches Bewusstsein, plädiert für die Freigabe bewusstseinserweiternder Drogen und stellt angesichts der zunehmenden Manipulierbarkeit des Gehirns die bedeutende Frage: "Welche Hirnzustände sollen [künftig] legal sein?"

In "Der Ego-Tunnel" nimmt die innere Aufregung stetig zu. Um das Tunnel-Konzept zu erklären, dreht Metzinger zunächst unerbittlich die Begriffsmühle und lässt sich per Interview von Hirnforscher Wolf Singer sekundieren. Dann tummelt sich der Mainzer Lehrstuhlinhaber für theoretische Philosophie kenntnisreich und staunend in der Neurobiologie und führt Gespräche mit dem Psychiater Allan Hobson und dem Humanphysiologen Vittorio Gallese. Im Zeichen der proklamierten "Bewusstseinsrevolution" lässt Metzinger der Fantasie freien Lauf: Er fingiert ein Interview mit dem ersten postbiologischen Philosophen im 4. Jahrtausend – und dabei sieht der Mensch unseres Zeitalters wirklich alt aus.

Wer nicht an Gott glaubt, aber Kant gelesen hat und die metaphysischen Hoffnungen der Menschen zwar für schön und verständlich, aber nicht für konsistent hält – der wird Metzingers Werk gelassen als kleinen (Fort-)Schritt der Bewusstseinsforschung und/oder als philosophisch verdichteten Kommentar lesen. Ärgern muss das Buch alle Egos, die sich nicht komplett als neuronale Aktivität begreifen, sondern wie eh und je auf eine höhere Weihe pochen.

Besprochen von Arno Orzessek

Thomas Metzinger: Der Ego-Tunnel. Eine neue Philosophie des Selbst: Von der Hirnforschung zur Bewusstseinsethik
Berlin Verlag, Berlin 2009
378 Seiten, 26 Euro